Himmlischer Speiseplan

Es ist Montagmittag. Ich mache mit meiner Vierjährigen heute einen Ausflug zum neuen Kindergarten. In sechs Wochen ziehen wir um, und sie darf vor den Ferien schon mal probespielen. Damit sie ein bisschen weiß, was sie nach dem Umzug erwartet. Alles ist neu und aufregend, am Anfang ist sie schüchtern, aber dann spielt sie drauflos und will eigentlich gar nicht mehr weg. Nach zwei Stunden werde ich nervös. Ich habe heute noch ein bisschen Schreibtischarbeit zu machen, muss noch ein Geschenk für den Kindergeburtstag besorgen, auf den die Große eingeladen ist und noch ein paar Dinge bei Leuten vorbeibringen. Also brechen wir auf.

Nach einer kurzen Stippvisite im Pfarramt machen wir uns gegen 11 Uhr auf dem Heimweg. „Ich bringe dich dann zu Hause noch in den Kindergarten, ja?“ frage ich meine Tochter. „Och nö!“ antwortet sie erschöpft. „Aber da gibt es dann Mittagessen!“ versuche ich zu locken. „Ich will lieber zu Hause Mittagessen bekommen. Milchreis! Mit Zimtzucker!“ Ich seufze innerlich auf. Klar, ich könnte zu Hause Milchreis zusammenrühren. Aber eigentlich brauche ich noch zwei Stunden Zeit, um in Ruhe zu arbeiten. Meine Entscheidung steht: Ich bringe die Kleine in den Kindergarten, ob sie will oder nicht. Ich stelle mich auf einen Machtkampf mit Geschrei und Tränen ein, wenn ich sie dort abgebe. Manchmal macht sie solche Szenen. Die Erzieherinnen versichern mir, dass sie sich immer wieder sehr schnell beruhigt und fröhlich spielt, wenn ich erstmal gegangen bin. Aber das Theater allein kostet mich jedesmal Kraft und Nerven.

Auf dem Weg Richtung Heimatort schläft das Töchterchen im Auto ein. Um die Uhrzeit ist das eher ungewöhnlich und ich ahne, dass der Besuch im neuen Kindergarten für sie doch ganz schön aufregend war. Klar, wie soll so ein kleiner Mensch auch verstehen und abschätzen, was es bedeutet, umzuziehen. Da muss sie sich erstmal zurechtfinden. Ich bin auch erschöpft. So anstrengend wie in den letzten Wochen war mein Leben noch nie: Einstieg in den Job; von jetzt auf gleich viel Verantwortung tragen, Renovierung und Umzug organisieren, ständig zwischen zu Hause und dem Pfarramt hin und her fahren und nebenbei versuchen, auch noch den Kindern als Mutter gerecht zu werden. Ich sehne mich nach Ruhe und einer Pause und kann mir schon allein deshalb gerade nur schwer vorstellen, die Kleine mit nach Hause zu nehmen.

Als wir am Kindergarten ankommen, dauert es eine Weile, bis ich sie wachkriege. Dieser Zustand ist immer schwierig und in solchen Momenten ist die Laune grundsätzlich schlecht. Ganz ungünstige Voraussetzungen für mein Vorhaben, sie für die verbleibenden drei Kindergartenstunden zu begeistern.

Glücklicherweise macht uns ihre Lieblingserzieherin die Tür auf und spricht Junia direkt an „Gut dass du kommst! Gleich gibt es Mittagessen!“. Junia klammert sich an mein Bein und will mich nicht gehen lassen. Ich werfe einen Blick auf den Speiseplan. „Mensch, Junia, es gibt Lasagne! Lecker!“ versuche ich sie zu begeistern. Ich wäre ja selig, wenn mir in diesen Tagen jemand einen Teller mit fertiger Gemüselasagne vor die Nase stellen würde …

Junia aber verzieht das Gesicht. „Mag ich nicht!“ Das hätte ich mir ja denken können. Das kann sie heute ja schon aus Prinzip gar nicht mögen. Ich verdrehe etwas ungeduldig die Augen und will schon weitere Überredungskniffe auspacken. Da sagt die Erzieherin: „Ja, wir haben auch gedacht, dass es Lasagne gibt. Aber leider stimmt der Plan heute nicht.“ „Was gibt es denn dann?“ frage ich. „Milchreis mit Zimtzucker“, antwortet die Erzieherin. Ich traue meinen Ohren nicht. Junias Gesicht hellt sich sofort auf. Sie strahlt mich an und hüpft auf und ab. „Leeeeecker!! Milchreis!!“ ruft sie begeistert. Die Erzieherin nimmt sie an die Hand. „Na dann komm, wir bereiten schon mal den Tisch vor.“ Und weg sind sie. Ich kann gerade noch „Tschüss, bis nachher!“ rufen und trete erleichtert und dankbar den Heimweg in Richtung Ruhe und Schreibtisch an.

Gott weiß, was wir brauchen, damit es uns gerade jetzt gut geht. Für die einen sind es zwei Stunden in Ruhe am Schreibtisch. Für die anderen ist es Milchreis mit Zimt und Zucker. Und dann kommt es schon mal vor, dass sich der Speiseplan auf himmlische Weise ändert. Danke, Gott.

Gott im Chinabistro

Vor ein paar Monaten wurde meine Tochter eingeschult. Wir hatten nicht viel Besuch. Großeltern, eine Tante mit Familie. Insgesamt waren wir, glaube ich, zu neunt. Bei der feierlichen Begrüßung in der Turnhalle der Schule erwähnte die Schulleiterin das Spielcafé, das von Ehrenamtlichen einmal in der Woche nachmittags auf dem Schulgelände angeboten wird. Jeder kann dort hingehen, Kaffee trinken, mit anderen ins Gespräch kommen – die Kinder haben jemanden zum Spielen, kurz: Eine tolle Sache. Seit einiger Zeit sind bei uns im Ort Flüchtlinge untergebracht und die Leute vom Spielcafé laden diese nun ein. Eine gute Idee.

In der Turnhalle am Einschulungstag saß ich nun zufällig neben der Mutter, die das Spielcafé mit betreut. Ich sprach sie nach der Veranstaltung darauf an. Sie erzählte von einem Problem: Sie würden von den Flüchtlingen selbstverständlich kein Geld für Kaffee und Kuchen nehmen (jeder andere muss einen kleinen Beitrag bezahlen). Jetzt würden die Finanzen knapp. Ich griff kurzerhand nach meinem Geldbeutel, zog einen Schein heraus und drückte ihn ihr in die Hand. Da sich kein kleinerer Schein im Geldbeutel befand, nahm ich eben einen größeren. Das alles geschah, bevor ich richtig realisiert hatte, was ich da tat. Sie bedankte sich und war im Gewusel der Einschulungsfeier verschwunden.

Als unsere kleine Festgesellschaft später zu Hause war, knurrte uns allen der Magen. Da die vorhergehenden Tage bei uns ziemlich turbulent waren, hatte ich beschlossen, nicht zu kochen, sondern Essen zu bestellen. So warteten wir also ungeduldig darauf, dass der Lieferant des Chinabistros uns gebratene Nudeln, Krabbenchips und Frühlingsrollen brachte. Nur leider kam er nicht. Nicht zur verabredeten Uhrzeit, nicht eine Viertelstunde später, nicht eine halbe Stunde später. Mein Mann stand die ganze Zeit draußen auf der Straße, um ihn in Empfang zu nehmen, da unser Hauseingang schwer zu finden ist. Die Stimmung war dementsprechend. Nach mehreren Telefonaten stellte sich heraus, dass der Fahrer in den falschen Stadtteil gefahren war, in dem es eine Straße mit genau dem gleichen Namen gibt. Mein Mann lotste ihn per Telefon zu uns. Schließlich kam das Essen bei uns an – eine geschlagene Stunde nach der verabredeten Zeit. Der Fahrer entschuldigte sich mehrfach – der Irrtum tat ihm wirklich leid. Und dann kam der Knüller: Aufgrund der Verspätung überließ er uns das Essen kostenlos.

Mein Mann brachte es nach drinnen und es war tatsächlich fast alles noch so warm, dass wir einfach essen konnten. Die Stimmung stieg wieder. Und dann realisierte ich, dass die Kosten für das Essen knapp über dem Betrag gelegen hätten, den ich vorher in der Turnhalle der anderen Mutter für das Spielcafé gegeben hatte. Ich lächelte still in mich hinein. Manchmal geht Gott ungewöhnliche Wege, um uns zu beschenken. An diesem Tag war sein Helfer der Fahrer vom Lieferservice, der am Telefon missverstanden hatte, in welchen Stadtteil er fahren sollte. Erstaunlich.

Die Sache mit den Bestattungen …

Ich bin noch nicht lange in diesem Beruf unterwegs. Aber wenn ich jemandem erzähle, was ich beruflich mache, oder jemanden treffe, den ich länger nicht gesehen habe, dann kommt eine Frage fast immer: „Wie geht´s dir mit den Beerdigungen, die du machen musst? Das ist doch bestimmt sehr belastend, oder?“ Wie gesagt, ich bin noch nicht sehr lange dabei. Und bisher hatte ich nur verhältnismäßig „unproblematische“ Fälle (meist habe ich ältere Menschen bestattet, die nach einem recht langen und guten Leben verstorben sind). Aber meine Antwort ist eindeutig: Nein! Im Gegenteil! Und genau das Gleiche höre ich auch immer wieder von (gerade älteren) Kollegen:

Beerdigungen sind nicht der schreckliche Teil des Berufs, der nun mal leider dazu gehört und den man eben jahrzehntelang zähneknirschend und die Realität der eigenen Sterblichkeit verdrängend auch irgendwie machen muss. Beerdigungen – und alles, was dazu gehört – machen einen verhältnismäßig großen Teil der Arbeitszeit einer Pastorin aus. In Kirchengemeinden sterben in der Regel mehr Menschen, als sich beispielsweise trauen lassen oder ihre Kinder zur Taufe bringen. Aber sie sind mit das Beste an dem Job. Denn in einem Trauerfall öffnen Menschen dem Seelsorger und Liturgen, der sie in der Trauer begleitet meist sehr bereitwillig ihre Türen – und ihre Herzen.

Im Trauerfall geht es ums Eingemachte, um die Substanz. Darum, was von unserem Leben übrig ist, wenn wir der knallharten Realität des Todes ins Auge sehen müssen. Ein Besuch bei einer trauernden Witwe oder einem anderen Hinterbliebenen ist etwas ganz Besonderes. Ich als (angehende) Pastorin habe das Privileg, mit Menschen, die an Grenzen kommen, die sie möglicherweise so noch nie erlebt haben, intensiv ins Gespräch zu kommen. Ich kann sie ein – kurzes oder längeres – Stück auf ihrem Weg begleiten. Und ihnen vielleicht helfen, den Weg zurück in ein „normales“ Leben zu finden. Wenn jemand trauert, dann tritt Vieles zurück, was im Alltag an der Oberfläche liegt und was den Blick auf das Innere, auf das was uns ausmacht, verstellt. Wer mich in der Zeit der Trauer zu sich einlädt und bittet, den geliebten Menschen zu bestatten, der gewährt mir einen Einblick in den ganz intimen Kreis einer Familie oder einer anderen Gemeinschaft. Ich werde mit hineingenommen in das Leben eines einzigartigen Menschen und sehe die Spuren, die er bei den Menschen, die ihn geliebt haben, hinterlassen hat. Meistens treten in solchen Gesprächen Konventionen in den Hintergrund. Es dürfen Tränen fließen, auch bei Menschen, die sonst stets darauf bedacht sind, die Contenance zu wahren. Es darf gelacht werden über schöne Erinnerungen. Man darf wütend sein über Dinge, die schief gelaufen sind oder versäumt wurden. Bei Trauernden erlebt man das Leben oft so, wie es wirklich ist. Ohne Maske im Gesicht und Vorhang vorm Fenster.

Und dann habe ich die ehrenvolle Aufgabe, einen Verstorbenen und seine Angehörigen auf seinem letzten Weg zu führen. Und vor allem habe ich das unglaubliche Vorrecht, in all die Dunkelheit der Trauer, die oft obenauf liegt, Lichtstrahlen zu schicken. Strahlen der Dankbarkeit für das, was war. Und den großen, übermächtigen Sonnenaufgang der Hoffnung, die wir als Christen haben: Der Tod hat nicht das letzte Wort. Jesus Christus ist auferstanden und darum werden auch wir leben, selbst wenn wir sterben! Was für eine Botschaft! Gibt es etwas Besseres, als der irdischen Verzweiflung von Menschen angesichts des Todes die großartige Nachricht vom Leben in Ewigkeit entgegenzusetzen? Das ist doch die Quintessenz des Neuen Testaments, des Evangeliums, das allein der Grund ist, warum ich diesen Beruf überhaupt mache. In kaum einem Moment kommt es so zur Geltung, wie wenn ich am frisch ausgehobenen Grab eines Menschen über das Leben sprechen darf.

Die Sache mit den Beerdigungen – „Ist das nicht sehr belastend?“ Nein. Im Gegenteil. Angst haben wir meistens ja vor den Dingen, die wir nicht kennen. Wer sich nie mit dem Tod auseinandergesetzt hat, der wird ihn fürchten und den Gedanken an Beerdigungen als belastend empfinden. Oder wer die Botschaft von der Auferstehung nicht kennt.

Das Leben besiegt den Tod. Endgültig. Wenn das mal nicht die ultimative ENTlastung ist …

Wie schön du bist

Predigt in der St. Martini-Kirche Bovenden vom 30.08.2015

I Katrin

Als Katrin morgens aufwacht, will sie sich am liebsten die Decke wieder über den Kopf ziehen. Wie soll sie diesen Tag nur durchstehen? Sie hat lange geschlafen. Trotzdem fühlt sie sich unendlich erschöpft. Arme und Beine sind schwer wie Blei. Aufstehen scheint unmöglich zu sein. Als sie es endlich geschafft hat, sich ins Bad zu schleppen, fällt ihr Blick in den Spiegel. Ein Gesicht sieht sie vor sich. Ein Gesicht, das nicht zu ihr zu gehören scheint. Dahinter steht ein Leben, das sie so nie leben wollte. So viel ist schief gegangen. So viel ist kaputt. Auf dem Küchentisch ein Zettel. „Wir sind schon in der Schule, wollten dich nicht wecken. Ich hab Tom sein Pausenbrot gemacht. Bis heute Nachmittag! Lisa.“ Katrin lässt sich auf einen Stuhl fallen. Sie ist stolz auf ihre Große, die so selbständig ist.

Wo ist der Mensch, der sie einmal war? Die Katrin, die voller Lebensfreude steckte. Die immer nach vorne geschaut hat und sich nicht so schnell entmutigen ließ. Soviel Energie hatte sie damals. Als sie und Steffen sich kennengelernt haben. Dann die Hochzeit. Die Kinder. Und jetzt ist alles in die Brüche gegangen. Und sie? Ein Wrack. Kaum noch ein Schatten ihrer selbst. Sie erkennt sich kaum noch wieder. Wie ein Geflecht aus Narben, das ihre Seele überzieht. So mag sie sich selbst nicht mehr leiden. Sich selbst nicht mehr in die Augen schauen. Und auch sonst ist da niemand, der genauer hinschaut. Der erkennt, wie es ihr geht und ihr eine Hand reicht. Da ist niemand, der sie wirklich sieht.

II Akilah

Ein Mädchen, vielleicht heißt es Akilah, etwa fünf Jahre ist sie alt, lacht selten. Als der Fotograf kommt, möchte Akilah erst nicht. Aber dann schaut sie doch in die Kamera. Sie sieht ernst aus. Wie sie da steht neben ihrem Bruder, der vielleicht Karim heißt und etwa sieben Jahre alt ist. Ausgesprochen hübsch sind die beiden. Große braune Augen und dunkle Locken. Lächeln mögen sie nicht. Sie stehen da und schauen in die Kamera. Und die Kamera tut, was so viele Menschen, die an ihnen vorbeigehen nicht tun. Sie sieht hin. Die meisten schauen lieber weg, wenn sie Akilah und Karim sehen. Weil sie den Anblick nicht ertragen. Denn Akilah hat nur noch ein Bein. Ihrem Bruder fehlt der rechte Arm. Einen gewaltigen Schlag gab es, als ihr Haus in die Luft flog – was genau passiert ist, hat Akilah nicht verstanden. Der Vater, der aufgeregt nach ihnen rief, wie sie sich aus den Trümmern kämpften. Wie fremde Menschen sie mitnahmen und wie immer wieder Ärzte sich über sie beugten. Karim war auch da und der Vater. Die Mutter nicht, sie ist nicht mehr bei ihnen. Wo sie ist, weiß Akilah nicht und sie traut sich nicht, nach ihr zu fragen. Jetzt sind sie hier, an diesem Ort. Wo die Bäume anders aussehen und der Himmel und die Menschen. Wo man kein Haus für sich hat sondern sich mit vielen anderen wenig Platz teilen muss. Wenn sie auf der Straße spielt mit den anderen Mädchen, versteht sie die Menschen nicht, die vorübergehen. Weil sie so anders sprechen. Und weil sie wegsehen. Die Stelle, wo ihr linkes Bein war, das eine Prothese jetzt ersetzen soll, ist nur noch eine große, rote Narbe. Die anderen Narben, die sie mitgebracht hat aus dem fernen Land kann man nicht sehen. Und Akilah lernt, nicht hinzusehen. Nicht zurückzusehen. Sich selbst nicht so genau anzusehen. Damit sie weiterleben kann.

III Lied abspielen: Sarah Connor „Wie schön du bist“ (im Netz leicht zu finden)

IV Hagar

Hagar ist allein. Sie sitzt mitten in der Wüste, an einer Wasserstelle. Zusammengekauert sitzt sie da und weiß nicht, wo sie hin soll. Eine Hand ruht auf ihrem Bauch. Auf dem Kind, das sie in sich trägt. Das Kind, um das sie nicht gebeten hat. Das sie für ihren Herrn gebären sollte, damit er und seine Frau, die nicht schwanger werden kann endlich Nachwuchs bekamen. Ihre Idee war das nicht. Nach ihrer Meinung fragte niemand. Eigentlich konnte das nicht gut gehen. Die beiden Frauen gerieten in schlimmen Streit. Ihre Herrin beneidete Hagar. Darum, dass sie schwanger werden konnte. Dass sie mit ihrem Mann erlebte, was ihr selbst nicht vergönnt war. Hagar ist vor ihrem Zorn geflohen. Jetzt sitzt sie hier und weiß nicht weiter. Wie lange sie schon so sitzt, weiß sie nicht. Die Hitze lässt die Landschaft vor ihren Augen verschwimmen. Sie hat nicht bemerkt, dass sich jemand nähert. Doch jetzt steht er vor ihr. Ein Mensch, den sie nicht kennt und der ihr irgendwie unbegreiflich scheint. „Hagar.“ Sagt er und sieht ihr direkt in die Augen. „Hagar, du bist die Dienerin von Sarai, wo kommst du her und wo willst du hin?“ Da ist etwas in seinem Blick, das macht, dass sie ihm ihre Geschichte erzählt. Und er hört ihr zu. Sieht sie an. Und es ist, als ob er in ihr Herz sehen kann. In ihre Seele. Sieht ihre Wut und ihren Schmerz, ihre Angst und ihre Narben. Sieht das Kind in ihrem Bauch. Und sieht, was daraus werden kann, was daraus werden soll. Er sieht sie und sieht viel mehr als das. Sieht, wer sie wirklich ist. Und wie es mit ihr und ihrem Kind weitergehen kann. Und Hagar spürt, dass diese Begegnung eine ganz besondere ist. Dass dieser Mann sie ansieht, sie kennt und versteht. Dass da einer ist, dass da der eine, Gott, ist, der ihr Elend ansieht und es erhört. Und sie steht auf und geht. Bekommt neue Kraft und neuen Mut um durchzustehen, was vor ihr liegt. Und jetzt weiß sie auch seinen Namen, den des Herrn, der da mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht.

V Ein Gott, der mich sieht

Ein Gott, der hinschaut, wo Menschen wegsehen. Der mitleidet, wo das Leid keiner mitansehen kann. Der nahe kommt, wo alle anderen sich wegdrehen. Der ja sagt zu mir und all meinen Farben und all meinen Narben. Der mich anschaut und sagt: Weißt du denn gar nicht, wie schön du bist? Du, so wie du bist. Mit allem was dazu gehört. Ohne „Was wäre wenn“ und „wenn ich nur anders sein könnte“ ohne „wenn das nur alles nicht passiert wäre“ oder „wenn ich nur wäre wie die anderen“. Ein Gott, der sich uns zur Seite stellt. Der verzweifelten Mutter. Dem verletzten kleinen Mädchen, das niemanden versteht. Der ungewollt schwangeren jungen Frau, die keinen Ausweg mehr sieht. Dem arbeitslosen Mann in den fünfzigern, der sich aufgegeben hat.

Hagar nennt ihn beim Namen:

Du bist ein Gott, der mich sieht. Der mehr sieht. Der tiefer sieht, als Menschen jemals sehen könnten. Der zu mir sagt: Lass dich mal anschauen! Denn ein Mensch sieht, was vor Augen ist. Gott aber sieht das Herz an. Da gibt es jemanden, der uns wirklich kennt. Und der die Schönheit erkennt hinter all den Narben und Farben, die auf der Oberfläche liegen.

Und wir? Wir sind gekannte. Erkannte. Und Geliebte. Kein Geheimnis gibt es da, wo jemand uns so sieht, wie Gott es tut. Keinen Schatten. Keine Narbe, die nicht sein darf und keine Freude, die man zurückhalten muss. Hinsehen ohne Vorbehalt. Ohne Wenn und Aber. Gott sieht hin.

VI Hinsehen!

Also lassen sie uns auch hinsehen. Zueinander stehen und füreinander einstehen. Das Potential in einem Menschen sehen. Das, was hinter der Fassade liegt. Besonders Mädchen wie Akilah und ihren Bruder, Menschen wie ihren Vater, die einen langen und schweren Weg hinter sich haben, gibt es bei uns zur Zeit viele. Flüchtlinge, die Zuflucht suchen. Die Hilfe brauchen. Die tiefe Narben mitbringen – äußerlich oder innerlich. Und es ist entsetzlich und beschämend, wenn sie verachtet werden für ihre Hilfsbedürftigkeit. Wenn oberflächlich denkende Menschen vorschnell urteilen. Wenn Hilfe suchende bei uns mit Hass, Neid und Gewalt empfangen werden. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass wir heute oder morgen auf der Straße Menschen wie Akilahs Vater begegnen. Dann lassen sie uns hinsehen. Nachfragen. Und helfen, wenn wir können. Und die Schönheit des Menschen erkennen hinter all dem, was er auf der Oberfläche mit sich trägt. Und lassen sie uns das tun aus der Kraft dessen, der uns liebt und kennt. Weil er uns ansieht. Tief ins Herz. Amen.

Gott im Garten

Es ist ein lauer Abend im Juli. Der Tag war heiß und drückend, aber jetzt ist es wunderbar, auf der Terrasse zu sitzen und ein Glas Wein zu genießen. Wir sind bei Freunden, haben zusammen gegessen. Jetzt spielen die Kinder, während die Erwachsenen den Tag in Ruhe ausklingen lassen. Es wird spät heute, auch für die Kinder. Aber ab und zu darf das sein. Die Stimmung ist besonders heute Abend. Die Dämmerung bricht herein, der Duft des Sommers, des nahen Waldes und das Zirpen der Grillen liegen in der Luft. Die ersten Fledermäuse machen sich auf die Jagd nach Insekten. Und dann gehen wir alle zusammen auf die Suche nach Glühwürmchen, die hier und da in den Büschen ihre Lichter anknipsen. Die Kinder sind mucksmäuschenstill und voller Spannung an den Händen der Erwachsenen durch den Garten unterwegs. Ihre Augen scheinen im Dunkeln zu leuchten, die Spannung ist förmlich spürbar. Wer entdeckt ein Glühwürmchen? Wer sieht die Fledermäuse durch die Luft huschen. Jeden Winkel des Gartens suchen wir gemeinsam ab. Und ich komme ins Staunen, einmal mehr. Über Gottes großartige Schöpfung, die so vielfältig und immer wieder so wunderschön ist. Der Farbverlauf des Himmels, das Funkeln der Sterne, das Piepsen der Mäuse im Gebüsch, das Leuchten der kleinen Insekten, die auf der Suche nach Ihresgleichen sind. Und über diese begeisterungsfähigen, neugierigen kleinen und großen Menschen, die Gott mir an die Seite gestellt hat. Die mich lehren, die Welt neu zu sehen. Die einen Luftsprung machen, weil sie am Himmel ein Flugzeug blinken sehen.

An diesem Abend war Gott mit uns im Garten unterwegs. Und er hat mich neu dankbar gemacht für das Geschenk des Lebens.

Es brennt!

Predigt in der St. Martini-Kirche Lenglern am Ostermontag 2015

Es brennt! Vor drei Wochen sah ich aus dem Fenster und vor lauter Qualm konnte ich das Nachbarhaus nicht mehr sehen. Es brennt! Die Feuerwehr machte sich schon an die Arbeit. Voller Einsatz, hohes Risiko. Wenn es brennt, dann muss man was tun! Und zwar sofort.

Es brennt! Der große Haufen aus Ästen und Zweigen war noch durchtränkt vom tagelangen Regen- und Schneefall. Eine Menge Brandbeschleuniger war nötig, viel Ausdauer und Hartnäckigkeit. Doch jetzt brennt es endlich, das Osterfeuer. Die Dunkelheit bricht herein und sein Schein ist weit durch das Tal zu sehen. Es brennt! Doch das, was brennen soll, ist nicht immer leicht zu entfachen.

Es brennt! Es brennt in mir. Es brennt mir auf den Nägeln und in der Seele und im Herzen. Es brennt und ich kann nicht stillsitzen. Ich kann nicht stillschweigen. Ich kann nicht anders, denn es brennt!

Lukas 24

Zwei der Jünger von Jesus wanderten zu einer Ortschaft mit Namen Emmaus, die etwa dreißig Kilometer von Jerusalem entfernt war. Dabei sprachen sie über all diese Ereignisse. Während sie so miteinander im Gespräch waren, kam Jesus selbst nahe an sie heran und wanderte zusammen mit ihnen. Doch ihre Augen waren verdeckt, sodass sie ihn nicht erkannten. Da stellte er ihnen die Frage: „Was sind das für Dinge, die ihr hier besprecht, während ihr miteinander auf dem Weg seid?“ Traurig blieben sie stehen. Einer der beiden, der Kleopas hieß, antwortete ihm: Warst du der einzige Besucher in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen in der Stadt geschehen ist?“ Jesus fragte sie: „Was denn?“ Sie antworteten: „Das mit Jesus von Nazareth! Der war ein Mann, der zum Propheten berufen war. Er war mächtig in Tat und Wort, sowohl vor Gott als auch vor dem gesamten jüdischen Volk. Den haben unsere obersten Priester und Regierenden ausgeliefert, um ihn zum Tod zu verurteilen und kreuzigen zu lassen. Und wir hatten doch unsere Hoffnung darauf gesetzt, dass er derjenige ist, der dem Volk Israel die schon lange erwartete Befreiung bringt.

Es hat gebrannt – er hat gebrannt. Ein Prophet. Ein Prophet musste er sein. Das ist einer, der brennt. Der stört. Der redet, wenn andere schweigen. Der sich den Mund nicht verbieten lässt. Einer der aufrüttelt. Der sich nicht anpasst. Ein Revolutionär. Ein Querdenker. Ein Begeisterter. Die einen haben sich anstecken lassen von seinem Feuer. Die anderen sahen in ihm und seinen Worten einen Schwelbrand, den man ersticken muss, bevor er sich ausbreitet, bevor er zum Flächenbrand wird.

Es brannte in ihm und um ihn herum. Und die Jünger dachten: Die Flammen werden wachsen und um sich greifen und dann wird alles verbrannt was uns noch hält und gefangen setzt. Ein mächtiges, ein reinigendes Feuer sollte von ihm ausgehen, damit Israel endlich wieder frei ist.

Jetzt sind sie Jünger enttäuscht. Mutlos. Alleingelassen. Sehen nur sich und ihre verlorenen Hoffnungen. Was wir uns erhofft und gewünscht haben, hat er nicht erfüllt. Er hat uns enttäuscht. Er war nicht der, den wir brauchten. Der Flächenbrand blieb aus. Der Funke wurde erstickt.

Sie erzählen dem Fremden, der sie begleitet, weiter: „Darüber hinaus ist es heute schon der dritte Tag, seitdem das geschehen ist. Außerdem haben uns einige von den Frauen, die zu uns gehören, in Aufregung versetzt. Die waren früh am Morgen am Grab. Dort haben sie den Körper von Jesus nicht gefunden. Sie kamen zu uns zurück und sagten, dass sie eine Erscheinung von Engeln gesehen hätten, und die hätten gesagt, dass er lebendig sei. Einige von uns sind dann zum Grab gegangen und haben es so vorgefunden, wie die Frauen es gesagt haben, aber ihn selbst haben sie nicht gesehen.“

Die haben auch irgendwie gebrannt, diese Frauen. Die. Ja, vielleicht. Aber ich? Lass mich bloß zufrieden in meiner Selbstbezogenheit. Lass mich baden in meinen Enttäuschten Hoffnungen. Komm mir nur nicht mit sowas.

Aber was müsste eigentlich passieren, damit ich es glaube?

Ich würde das ja alles gerne glauben. Das mit Ostern. Mit Gott und Jesus. Mit Tod und Auferstehung. Dass das alles was mit meinem Leben zu tun hat. Dass er mich und die Welt verändern kann. Dass er mich und meine Schuld, meine Selbstbezogenheit, meine enttäuschte Hoffnung heilt. Aber ich kann einfach nicht. Jesus müsste mir schon persönlich begegnen. Dann vielleicht. Er müsste sich mir zeigen. Damit ich glaube, dass es ihn gibt. Dass es einen Sinn im Leben gibt. Damit ich nicht mehr nur um mich selbst kreise. Damit ich angesteckt werde vom Funken. Damit etwas in mir zu brennen beginnt.

Ist das eigentlich zu viel verlangt? Ist es zuviel verlangt, dass wir ihm persönlich begegnen? Schließlich sollen wir das alles einfach so glauben. Und überhaupt: Wer soll das noch glauben! Da ist ein Mann gekreuzigt worden vor über 2000 Jahren. Damit ich das glauben könnte, müsste er mir schon persönlich begegnen, der Auferstandene.

Es kann doch nicht zu viel verlangt sein! Es ist sogar der einzige Weg. Wer das glaubt, der muss ihm persönlich begegnet sein. Glauben kommt nicht vom Hörensagen. Das hören, was andere sagen, reicht nicht. Um zu glauben, muss ich ihm persönlich begegnen.

Da sagte er zu ihnen: „Ihr seid wirklich unverständig und eure Herzen sind unbeweglich geworden! So könnt ihr dem nicht Glauben schenken, wovon doch alle Propheten gesprochen haben. War es nicht unbedingt notwendig, dass der Messias dieses Leiden auf sich nimmt und dadurch dann zu der ihm zustehenden Ehrenstellung kommt?“ Dann fing er an bei den Büchern von Mose und von allen Propheten und erklärte ihnen das, was in all diesen heiligen Schriften über ihn ausgesagt wird.

Er erklärt. Ist der Glaube also etwas, das man erklären kann? Das man mir erklären muss? Gut, dass wir unseren Verstand haben, um zu denken. Um nachzuvollziehen. Um zu hinterfragen. Und gut erklärt ist all das mit Gott und Jesus vielleicht auch logisch. Die Bibliotheken sind voll von dogmatischen Entwürfen, die erklären, wie es sich verhält. Mit Gott und der Welt. Mit Jesus und den Menschen. Und doch ist der Verstand ein wankelmütiger Glaubenszeuge. Denn das, was ich glaube, verstanden zu haben, kann ich oder ein anderer im nächsten Moment wieder hinterfragen. Neue Einsichten lösen alte ab. Forschung, Wissenschaft und ich zermarten sich das Hirn und kommen doch zu keinen endgültigen Antworten. Nichts genaues weiß man nicht, auch wenn man meint: Ja, so könnte es sein. Und wo man etwas nicht sicher weiß, da hilft wohl nur: Es über Bord werfen. Oder glauben.

So kamen sie in die Nähe des Dorfes, zu dem sie unterwegs waren. Da tat Jesus so, als wollte er weitergehen. Doch sie redeten auf ihn ein und sagten: „Bleib doch bei uns, denn der Mittag ist schon vorüber und der Tag neigt sich zum Abend hin!“ Da ging er in das Haus, um bei ihnen zu bleiben.

Bleibe bei uns! Es ist fast, als würden sie etwas ahnen. Bleibe bei uns. Geh nicht weiter.

Sie kreisen um sich selbst, sie versinken im Sumpf ihrer Trauer. Und dann kommt da einer von außen dazu. Einer mit einem anderen Blickwinkel. Etwas beginnt. Etwas hat schon begonnen in diesem Moment, das sie sagen lässt: Bleibe bei uns! Lass uns nicht wieder allein mit unserer Hoffnungslosigkeit. Denn dann war es wohl wieder nur alles umsonst. Bleibe bei uns. Damit wir nicht mehr nur wir sind, sondern wir und du. Bleibe bei uns. Und er bleibt. Fast ist es, als wollte er gebeten werden. Denn er tat, als wolle er weitergehen. Als hätte er gewartet auf die Bitte: „Bleibe bei uns“. Er drängt sich nicht auf. Ein höflicher Besucher. Zurückhaltend. Ein Gentleman.

Noch ahne ich nur, dass du es bist, der mich anspricht. Ein Gedanke, eine Idee, ein Gefühl hinten im Kopf, ganz unten im Bauch. Da ist etwas, ich bekomme es kaum zu fassen. Daran muss etwas sein. Wie ein Rettungsanker, wie die Hoffnung nicht wieder nur allein zu sein mit mir und meiner Trübsal. Mit mir und dem, was mir nicht hilft. Und das lässt mich zu dir sagen, zu dir, den ich noch nur erahne und nicht recht erkenne: Bleibe bei mir!

Dann geschah es: Als er mit ihnen am Tisch saß, nahm er das Brot, sprach das Dankgebet, brach es in Stücke und gab es ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten Jesus. Doch er wurde unsichtbar für sie.

Sie erkannten ihn. Sie erkannten, dass er mehr war als nur ein fremder Schriftgelehrter Nachdem er ihnen den Verstand geöffnet hat, und dann die Herzen, öffnet er ihnen nun die Augen. Im Brotbrechen. Genau wie vor ein paar Tagen, an diesem Abend, als sie zusammensaßen und das Schreckliche sich ankündigte. Hatte er es da nicht selbst gesagt? Es muss so kommen. Na klar, er hat mehr als einmal davon gesprochen. Er muss verhaftet werden und sterben. Und auch davon, dass er wiederkommen wollte, hat er gesprochen. Und das, was sie nur gehört, und dann verstanden haben, sackt ins Herz. Er ist es. Er ist derselbe, den wir vorher kannten. Und doch ist er ganz anders.

Und wo bin ich unverständig und unbeweglich? Wo redet er mir ins Gewissen? Kann ich ihn hören und verstehen? Aber mehr als das ist nötig. Es, nein, er muss ins Herz sacken, damit ich glauben kann. Er gibt sich mir zu erkennen und tut mir damit die Augen auf. Für ihn. Für mich. Für die Wirklichkeit. Damit ich glauben kann.

Doch als sie noch einmal hinsehen, ist er nicht mehr da. Schon wieder verschwunden? Schon wieder allein. Nein, denn jetzt haben sie ihn im Herzen. Und sie beginnen, zu glauben, zu brennen.

Da sagten sie zueinander: „Hat unser Herz nicht gebrannt, als er mit uns auf dem Weg redete und uns das Verständnis des Gottesbuches eröffnete?“ So standen sie in derselben Stunde auf und liefen wieder nach Jerusalem zurück.

Es ist wie ein Funke. Wie ein lodern. In den Augen nur zuerst. Doch es beginnt, sich auszubreiten. Auch andere anzustecken. Er ist ihnen begegnet – und es hält sie nichts. Sie müssen zurück zu den anderen und ihnen davon berichten. Es brennt in ihnen. Ein mächtiges, reinigendes Feuer in ihrem Innern. Was kalt und hart war, verbrennt. Und die Flammen bleiben nicht, wo sie sind. Sie schlagen nach außen.

Wie ein Funke. Wie ein lodern. In den Augen zuerst. Im Herzen. Im Bauch. Es brennt dann auch auf den Nägeln, wenn er uns begegnet. Wenn er, der Auferstandene mir begegnet, dann gibt es kein Halten mehr. Wenn ich doch nur so brennen würde. So brennen könnte. Wenn er mir doch persönlich begegnen würde!

Wir feiern Ostern mit großen Feuern und brennender Freude. Halleluja: Das Leben besiegt den Tod!

Und doch feiere ich Ostern mit einem sehnsüchtigen Wunsch: Dass ich ihn nicht nur vom Hörensagen kenne. Dem sehnsüchtigen Wunsch, ihm zu begegnen, dem Auferstandenen. Ich wünsche mir, dass er mir den Sinn und die Augen öffnet. Dass er sich zu erkennen gibt. Dass er mir ins Herz rutscht. Und dass es beginnt zu brennen. Und wenn es brennt, dann kann man nicht stillsitzen. Wenn es brennt, kann man

nicht schweigen und nur zusehen. Wer brennt, der muss es weitersagen. Und wer brennt, kann andere entzünden.

Bis es brennt, dauert es manchmal. Manchmal braucht es Mühe und Zeit, bis das Feuer entfacht ist. Eine Menge Brandbeschleuniger.

Die zwei Männer auf dem Weg nach Emmaus waren nur bei sich. Enttäuscht. Verletzt. Verbohrt. Voller Selbstmitleid. Doch die Begegnung mit Jesus hat sie verändert. Hat sie entfacht.

Und wo bin ich?

Ich und meine Sorgen. Ich und meine Probleme. Ich und meine unerfüllten Wünsche. Ich und meine Unzufriedenheit, meine Ungeduld, meine Angst. Die Ungerechtigkeit, die ich erlebt habe. Ich und ich und ich. Was ist da kalt und hart in mir?

Und ich kann nicht anders, als zu beten:

Auferstandener Jesus, komm und rüttele mich auf. Komm und wecke meinen Verstand. Komm und öffne mir die Augen. Komm und schüre du die Glut, die da unten in mir fast zu erlöschen droht. Komm und entfache das Feuer neu. Damit es brennt. In meinem Herzen. Auf meinen Nägeln. Verbrenne, was in mir kalt und hart und unverständig ist. Damit ich nicht mehr stillsitzen kann. Damit ich aufstehe und gehe. Damit ich sehe und verstehe. Damit ich glaube. Du musst mir begegnen. Du musst mich berühren. Damit ich brenne.

Amen.

Wissen, was zählt.

Am 1.2.2015 war ich zu Gast in der Göttinger Baptistengemeinde. In der Predigt ging es um die Freiheit (Galater 5,1-6).

Hier kann man sie anhören:

Maskenball

Predigt in der St. Martini-Kirche Bovenden am 15.2.2015

Wer bist du?“ Die Frage klang irritiert, verunsichert. Mitten im Gewühl hatte sie plötzlich eine Hand gepackt und zur Seite gezogen. Überall um sie herum waren Menschen, die Musik war laut und die Luft stickig. Wer war das, der sie da an der Hand hinter sich herzog? Sie konnte ihn – oder sie? Nicht erkennen, denn das Gesicht war hinter einer Maske versteckt. Genau wie ihr eigenes. Und wie die der mehreren hundert Menschen, die hier außerdem noch feierten. Man musste schon sehr genau wissen, wie die eigenen Freunde gekleidet waren, um sie wiederzuerkennen. Aber dem, der sie da zur Seite zog, war sie heute noch nicht begegnet, da war sie sich sicher. „Wer bist du?“ Ihre Frage ging im Lärm unter. Der Fremde gab sich nicht zu erkennen.

Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.

Wer bist du?“ Das Kind am Telefon stellte die Frage rundheraus. Klar, wenn Mama ans Telefon kommen soll, dann muss sie ja wissen, wer am anderen Ende der Leitung wartet. Trotzdem traf die Frage ihn völlig unvorbereitet. Und noch lange, nachdem das Telefonat beendet war, grübelte er weiter. Wer bist du? Wer bin ich? Sollte das nicht leicht zu beantworten sein? Ich bin der Papa von … Ich bin der Chef der Firma … Ich bin Verwaltungsangestellte … Ich bin Fußballfan … Ich bin Konfirmand … Ich bin Abiturient … So viel, was ich sein kann. So viele Rollen die ich spiele. So viel, was ich vielleicht auch gerne nur wäre. Schöner. Rücksichtsvoller. Beliebter. Unbesorgter. So viele Masken, die ich trage. Die mich manchmal bis zur Unkenntlichkeit verstecken. Und dann kommt jemand und stellt mir die einfache Frage: Wer bist du? Und ich weiß keine Antwort.

Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.

Jesus will es wissen. Er macht sich mit seinen Jüngern auf den Weg von einem Dorf in Galiläa zum nächsten. Und unterwegs fragt er sie: Wer sagen die Leute, dass ich sei?

„Einige sagen, du seist Johannes der Täufer.“ „Oder Elia.“ „Manche denken auch, du bist einer der alten Propheten.“ Jesus bleibt stehen. Hält einen Moment inne und sieht sie an. „Und ihr? Was meint ihr, wer ich bin.“ Stille. Verwirrtes blinzeln, unsichere Blicke. Doch dann ergreift einer das Wort, Petrus. Er sieht Jesus geradewegs in die Augen. „Du bist der Christus.“

Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.

Der Christus. Ja. Er ist der Christus! Das war mir schon damals ganz klar. Wer sonst sollte er sein? Der Retter, den Gott geschickt hat. Der, der endlich Schluss macht mit unserem Elend. Mich, Petrus, hat er herausgeholt aus dem eintönigen Fischeralltag. Ich war mir sicher: Jetzt wird etwas Großes geschehen. Das ist der Christus. Der Gesalbte! Der, den Gott uns schickt um sein Volk endlich frei zu machen. Um die Römer zu vertreiben. Um Schluss zu machen mit denen, die uns unterdrücken. Die uns daran hindern endlich als die zu leben, die wir sind. Er wird Schluss machen damit, dass wir uns verkaufen müssen an den fremden Kaiser. Dass wir nicht frei sind, dass wir nicht haben, was uns zusteht. Er wird uns befreien. Der Christus. Es war doch ganz klar. Er sprach von Dingen, die zuvor noch niemand gehört hatte. Er machte Kranke gesund. Ja, sogar Tote hat er vom Leben auferweckt. Das musste er sein.

Und dann das. Er muss leiden, hat er gesagt. Leiden und Verspottet werden, aufs Schändlichste. Und sie würden ihn töten, hat er gesagt. Ausgerechnet die, die er befreien sollte. Er sollte unserem Volk, Gottes erwähltem Volk Israel wieder zur Freiheit verhelfen. Und dann sollten die, die bei uns das sagen haben, ihn ermorden? Ich wollte das nicht glauben. Ich konnte das nicht glauben. Das konnte nicht wahr sein! Und wenn es doch wahr sein sollte, konnte er doch nicht der Retter sein. Der Christus würde so nie mit sich umspringen lassen. Das konnte nicht wahr sein!

Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.

Das war wie ein Schlag ins Gesicht für mich. Vor allen anderen hat er mich zurückgestoßen. Nicht was göttlich, sondern was menschlich ist! Er konnte so liebevoll sein. Und so schonungslos ehrlich, dass es einem fast grausam erschien. Der Christus! Das war er doch! Aber ich hatte es damals noch nicht verstanden. Ich hatte noch nicht verstanden, was das bedeutet. Wer dieser Christus wirklich war. Wer er ist. Es kam, wie er gesagt hat. Er wurde verspottet. Verhöhnt. Festgenommen. Geschlagen. Und gekreuzigt. Ich konnte mir das damals alles noch nicht vorstellen. Wir standen noch ganz am Anfang des Weges. Aber es führte kein Weg daran vorbei. Jetzt, 50 Tage später, habe ich es verstanden. Er musste da durch. Und wir mit ihm. Denn erst dann konnten wir erkennen, wer er wirklich war. Und nur so konnte ich verstehen, wer ich wirklich bin.

Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.

Ich war zu allem bereit. Ich bin ihm gefolgt und habe alles hinter mir gelassen. Meinen Beruf. Mein zu Hause. Alles. Zumindest dachte ich das. Als Jesus angefangen hatte, von diesen furchtbaren Dingen zu reden, wurde ich unsicher. Damit hatte ich nicht gerechnet. Keiner von uns hat das. Wir haben den starken Helden gesucht. Den vollmächtigen Retter. Der endlich gekommen ist, um unsere Träume von Freiheit und Gerechtigkeit zu erfüllen. Und der ist er doch auch! Kein Mensch wie jeder andere. Er hat göttliche Macht. Das konnte jeder sehen. Doch dann kam alles genau so, wie er es angekündigt hatte. Der Widerstand wurde stärker. Immer wieder stellten sich ihm Gelehrte entgegen. Und auch für uns war es manchmal nicht leicht, zu ihm zu stehen. Und dann wurde er wirklich festgenommen. Diese Nacht war meine dunkelste Stunde. Ich habe es nicht geschafft. Als Jesus vom Hohen Rat vernommen wurde, habe ich versagt. „Du bist doch auch einer von denen!“ rief eine Frau. Und ich? Ich wusste überhaupt nicht mehr, wer oder was ich noch bin. „Ich, ich bin … nein! Nein, nein, ich habe mit ihm nichts zu schaffen!“ Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet. Doch wer bin ich?

Geh weg von mir Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist!

Ich habe ihn verleugnet. Aber habe ich nicht alles für ihn gegeben? Habe ich nicht verdient, dass er sich besser um mich kümmert? Habe ich nicht verdient, dass er meine Träume und Wünsche erfüllt? Doch welche Träume, welche Wünsche habe ich eigentlich noch? Wer bin ich?

Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren. Und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.

Mein Leben verlieren. Ich habe damals nicht verstanden, was er damit eigentlich meint. Und ich habe auch nicht gewusst, wie sehr ich noch auf der Suche war nach meinem Leben. Nach mir selbst. Ich habe mich an ihn geklammert. An das Bild, das ich von ihm hatte. Und an das Bild, das ich von mir hatte. Es gibt so viel, was ich sein kann. So viele Rollen die ich schon gespielt habe. Der brave Sohn. Der gute Fischer. Der eifrige Jünger. Der Freund. Und es gibt so viel, was ich vielleicht auch gerne nur wäre. Klüger. Manchmal weniger aufbrausend. Einer, der denkt, bevor er redet. Ein glücklicher Familienvater. Ein freier Israelit.

Auf dem Weg nach Jerusalem, auf dem Weg zu seinem Tod habe ich es noch nicht verstanden. Doch jetzt dämmert es mir langsam. All das sind nur Rollen. Was er von mir wollte, war nicht, dass ich wieder neue Rollen spiele. Im Gegenteil. Und es ist wahr, er ist gekommen um mich zu befreien. Aber nicht von den Römern oder von meinem eintönigen Alltag. Er ist gekommen um mich von mir selbst zu befreien. Von all den Erwartungen, die ich an mich stelle. Von all der Unzufriedenheit mit mir selbst. Von all den Rollen, die ich in meinem Leben schon gespielt habe. Mich selbst zu verleugnen, das bedeutet wohl, ihm entgegenzutreten. Ihm in die Augen zu sehen. Und mir von ihm sagen zu lassen, wer ich bin.

Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.

Und so lasse ich mich von ihm in Frage stellen. Die Zeit der Maskeraden geht vorbei. Heute noch und morgen und am Dienstag. Doch dann heißt es: Ehrlich werden.

Er greift meine Hand, mitten im Gewühl des Maskenballs. Er ruft mich heraus aus dem Lärm, aus dem Gedränge. Er hat seine Maske abgenommen, damit mich meine nicht mehr zu tragen brauchen. Damit ich loslassen kann, was ich zu sein glaube. Damit ich mir von ihm sagen lassen kann, wer ich wirklich bin. Das ist nicht leicht. Es tut weh, mich selbst zu betrachten. Und ehrlich zu werden. Es tut weh, loszulassen, woran ich mich gewöhnt und festgehalten habe. Doch es führt kein Weg daran vorbei. Es ist ein langer Weg nach Jerusalem, der vor uns liegt. 49 Tage. 49 Tage lang den Weg des Leidens mit ihm gehen. Mich selbst verleugnen. Ehrlich werden vor mir und vor Gott. Die Masken ablegen. Und am 50. Tag, da wird es kommen, das Licht. Das Licht des Lebens, das nicht auszulöschen ist. Das Licht seines Lebens, das in mein Leben scheint. In diesem Licht und nur in diesem Licht kann ich verstehen, wer ich bin. Geliebt, weil er liebt. Getragen, weil er trägt. Lebendig, weil er lebt.

Amen.

Adleraugen

Andacht vom 3.12.2014 in der evangelischen Kirchengemeinde Bovenden

Heute Früh war es soweit: Der erste Schnee! Nicht viel, nur eine feine Schicht, wie Puderzucker auf den Dächern und Autos und Bäumen. Haben Sie sich drüber gefreut? Oder eher geärgert, dass Sie die Scheiben am Auto freimachen mussten und die Straßen glatt waren? Kennen Sie es noch, dieses alte Gefühl aus Kindertagen, wenn man morgens aufwacht und der erste Schnee ist gefallen? Es kribbelt im Bauch und an den Beinen und den Armen. Man möchte am liebsten alles stehen und liegen lassen und nach draußen rennen. Der erste Schnee. Heute Morgen war er also da. Aber ganz egal, ob Sie sich drüber freuen oder ärgern, eines sollten Sie unbedingt mal tun: Ganz genau hinschauen.

Der Stern war ein echter Fund. Wilson brachte das Brettchen in den Schuppen. Es war kalt hier, oft fror er, wenn er lange still am Mikroskop stand, er hätte sich noch den Schal holen sollen. Anders war die Arbeit aber nicht zu machen, es musste kalt sein. Für seine kleinen Wunder fror er gerne.
Vorsichtig berührte er mit einem Holzsplitter die Mitte des Sternkristalls. Es blieb daran kleben. Er übertrug den Kristall auf ein Glasplättchen. Mit der Truthahnfeder schob er ihn in die richtige Position, bis der flach und mittig auf dem Glas lag.
Unter dem alten Mikroskop prüfte er den Kristall. Er war tatsächlich unbeschädigt und hatte noch nicht begonnen zu verdunsten. Die Wassermoleküle eines Schneekristalls begannen sich, meist an den Spitzen oder den scharfen Kanten zu verflüchtigen, dann wurden die Kanten rund und die Spitzen kurz. Aber dieser sah herrlich aus.(…)
Herrlich! Die Eisnadeln des Sterns bildeten jede zahlreiche seitliche Nebenstrahlen, und die Nebenstrahlen waren von winzigen Eisspitzen besetzt, sodass sie wie Federn aussahen. Ein gefiederter Stern. Zudem hatten die Eisnadeln jede eine Mittelrippe, sodass es aussah, als würde ein kleiner Stern auf dem großen liegen. Ein Prachtexemplar.(…)
Er blickte aufs Thermometer. Minus zwei Grad Celsius. Im Notizbuch notierte er die Witterung und die Temperatur. Bei minus zwei Grad gab es die größten Schneesterne, manche vier Millimeter im Durchmesser. Schon bei minus sechs Grad schrumpften sie auf drei Millimeter und bei Minus zwölf hatten sie oft nur noch einen Durchmesser von einem Millimeter. Was, wenn heute noch stattlichere Exemplare da draußen niederfielen? Ein oder zwei musste er noch fangen. Die Vorstellung, dass ihm womöglich gerade eine Entdeckung entging, machte ihn unruhig.
Er nahm das Brettchen und stürmte hinaus. Je kälter es war, desto weniger Wasserdampf enthielt die Luft. Interessanterweise fielen mehr Plättchen und weniger Sterne, wenn es kalt war, obwohl es bei den Plättchen wunderschöne Fälle gab, nicht nur die simplen dünnen Eislamellen in Form länglicher Sechsecke, es gab auch Plättchen mit Linienornamenten und kronenartigen Ansätzen.(…)
Glückstrunken hielt er das Brettchen in den fallenden Schnee. Ein Schatzsucher, ein Entdecker und Weltenerkunder war er, frei wie ein Vogel, dem Himmel mehr verwandt als der Erde.
(Mit freundlicher Genehmigung aus dem Buch „Der Schneekristallforscher“ von Titus Müller. adeo Verlag, Asslar 2013. https://www.youtube.com/watch?v=uxsuUr9K-Ds )

Wilson Bentley geht auf Schatzsuche. Aber er sucht nicht Gold oder Juwelen, Reichtum oder Ruhm. Seine Schätze sind winzig klein. So klein, dass die meisten Menschen sie einfach übersehen. Einzelne Schneekristalle sind wirklich wahre Wunder. Schauen Sie mal genau hin, wenn Sie das nächste Mal die Gelegenheit haben. Wahre Wunder, die mich staunen lassen. Staunen über die Schönheit, die Vielfalt und den Detailreichtum von Gottes Schöpfung. Staunen über diesen Schöpfer, der so unendlich groß ist. Und der selbst die kleinsten Dinge mit Sorgfalt und Liebe gestaltet hat. Schauen Sie einmal genau hin.
Und wenn ich so darüber nachdenke, habe ich das Gefühl: Das scheint bei Gott Programm zu sein. Große Machtbeweise und beeindruckende Wundertaten? Ja, vereinzelt finden wir die in der Bibel auch. Aber viel deutlicher scheint mir das Bild vom Gott der Stille. Vom Gott des Kleinen. Vom Gott der Details. Was groß und mächtig und lärmend daherkommt bringt auch immer ein Risiko mit sich. Wer sich in Höhen aufschwingt und alles überragt, der kann tief stürzen und in sich zusammenfallen. Was riesig scheint und sich selbst überschätzt, kann in viele Einzelteile zersplittern – und schon ist es vorbei mit der Größe und der Macht und der Stärke.
Gott ist groß und mächtig und stark – daran besteht kein Zweifel. Aber er hat es nicht nötig, sich durch Machtgehabe und Großtuerei Respekt zu verschaffen. Im Gegenteil. Als Jesus einmal nach dem Reich Gottes gefragt wurde, hat er geantwortet:

Markus 4,30-32 Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen, mit welchem Gleichnis sollen wir es beschreiben? 31 Es gleicht einem Senfkorn. Dieses ist das kleinste von allen Samenkörnern, die man in die Erde sät. 32 Ist es aber gesät, dann geht es auf und wird größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, so daß in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.

Gott kommt im Kleinen. Im winzig Kleinen. So klein manchmal, dass wir ihn und sein Reich einfach übersehen. Ein Schneekristall und ein Senfkorn, die auf den Boden fallen, verschwinden einfach. Um so kleine Dinge wahrzunehmen, müssen wir genau hinschauen. Innehalten. Still werden. Sonst gehen wir einfach darüber hinweg, werden sie übertönt vom Lärm des Lebens, zertreten, oder vielleicht im Keim erstickt. Vielleicht machen wir uns lustig über Leute, die das tun: Ganz genau hinschauen. Wahrnehmen, was winzig ist. So wie Wilson im Buch, den viele für spleenig und verschroben halten. Weil die winzige Welt der Schneekristalle ihn so fasziniert. Aber es ist eine Gabe, genau hinzusehen. Es ist die Mühe wert. Denn was klein ist, das hat oft ein großes Potenzial: Es kann wachsen. Wer klein anfängt, kann sich immer noch steigern.
So wie das Senfkorn. Kleiner geht es kaum. Doch sein Potenzial ist riesig: Ein Baum, in dem Vögel nisten! So ist das mit Gottes Reich, mit Gott mitten unter uns: Es fängt meistens klein an. In einem Lächeln. In einem freundlichen Wort. In einer helfenden Hand. Denn, und auch da sind wir noch im Kleinen: Wo zwei oder drei in Gottes Namen zusammenkommen, da ist er auch. Er und sein Reich höchstpersönlich. Das muss kein Gottesdienst sein und keine Andacht. Das kann die Nachbarin sein, die kurz auf die Kinder aufpasst. Das kann die Kaffeerunde am Nachmittag sein, die einer älteren Dame hilft, mal rauszukommen.

Schauen Sie doch mal genau hin: Vielleicht entdecken Sie etwas von Gott und seinem Reich mitten in ihrem Alltag – und sei es auch noch so klein. Eines steht fest: Die Details sind immer wunderschön.
Und vielleicht stellen Sie auch fest, dass es schon Wurzeln geschlagen hat, das winzige Senfkorn. Dass es beginnt zu wachsen. Und dann pflegen Sie es. Geben Sie ihm Wasser. Dünger. Sonne. Arbeiten sie mit daran, dass es sich ausbreiten und gedeihen kann.Und vielleicht sehen Sie eines Tages die Vögel, die darin nisten.

Winzig klein. Detailverliebt, so ist Gott. Das kann man nicht nur an der atemberaubenden Schönheit von Schneekristallen erkennen. Winzig klein. Detailverliebt. Wenn Sie das nächste Mal ein Baby sehen, dann schauen Sie doch auch da mal genau hin. Die winzigen Finger, Wimpern, Fußnägel. Winzig klein, und doch mit einem riesengroßen Potenzial. Zu wachsen. Sich zu entwickeln. Zu laufen. Zu springen. Zu lachen. Zu trösten. Zu helfen. Und – zu erlösen. Winzig klein. In einem Baby. In einem Stall. So kommt Gott in unsere Welt. Halten Sie inne. Schauen Sie genau hin. Ich bin sicher: Dann können Sie ihn entdecken.

Amen.

 

Lebendig machen

Predigt vom 19.10.2014 in der St. Albani-Kirche in Göttingen (Abendgottesdienst)

Ein Vater hatte zwei Söhne. Eines Tages kam einer der beiden zum Vater und sagte zu ihm: „Gib mir meinen Anteil am Erbe“. Der Vater teilte daraufhin das Vermögen zwischen seinen beiden Söhnen auf und gab dem jüngeren der beiden seinen Anteil. Dieser packte alles zusammen und ging in ein fernes Land. Und dort vergeudete er sein Vermögen durch ein zügelloses Leben. Nachdem er aber alles durchgebracht hatte, kam eine gewaltige Hungersnot über jenes Land, und er fing an Mangel zu leiden. Und er machte sich auf und ging zurück zu seinem Vater. Der empfing ihn kühl und überschüttete ihn mit Vorwürfen: Du kommst ganz nach deiner Mutter. Du bist genauso ein unverantwortlicher Nichtsnutz wie sie. Man kann euch keinen Moment aus den Augen lassen. Du blamierst uns vor aller Welt und ruinierst nicht nur deine eigene Zukunft, sondern auch noch die deines Bruders. Wer will so einen denn noch heiraten. Nun werde ich alles in die Hand nehmen, damit noch was Vernünftiges aus dir wird. Und der junge Mann ging zum Friedhof, an das Grab seiner Mutter und weinte. Er dachte dabei an ihre warmen Hände und daran, wie gut sie immer gerochen hatte.

Haben Sie gestutzt, eben, als die Geschichte vorgelesen wurde? Kennen Sie die Geschichte? Wenn Sie sie kennen, dann  wahrscheinlich ein bisschen anders. Der Sohn, der alles verloren hat, kommt nach Hause. Und was tut sein Vater? Er reagiert so, wie man es wohl erwarten kann. Er ist ärgerlich. Zu Recht, oder etwa nicht?
Ich bin froh, dass die Geschichte in der Bibel so nicht steht. Die Version, die Jesus einmal erzählt hat, und die sie wahrscheinlich im Ohr haben, geht so:

Ein Mensch hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie. 13 Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen. 14 Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land, und er fing an zu darben 15 und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. 16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm. 17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger!

Stell dir vor, du bist verlassen worden. Du hast dich um einen Menschen bemüht. Du hast deine Zeit, Kraft und Liebe in ihn investiert. Du hast ihn umsorgt und dich ihm zur Verfügung gestellt. Doch er wendet sich einfach von dir ab. Will nichts von dir wissen und lieber seiner eigenen Wege gehen. Hat nicht erkannt, wie wichtig er für dich ist. Hat nicht verstanden, dass du auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm gehofft hast.

Wie schmerzhaft muss es für den Vater sein, sein Kind gehen zu lassen. Welche Gedanken, Ängste, Wünsche und Hoffnungen gehen ihm durch den Kopf, als er seinen Sohn davongehen sieht? Seinen Sohn. Sein geliebtes Kind, das er vom ersten Atemzug an gekannt, versorgt und geschützt hat. Für dessen Leben und Existenz er verantwortlich ist. Das ohne ihn nicht einen Tag im Leben zurecht gekommen wäre.

Stell dir vor, du bist schuldig geworden. Du hast es so richtig verbockt und du weißt das auch ganz genau. Stell dir vor, du hast Vertrauen missbraucht, Menschen ausgenutzt, verantwortungslos gehandelt. Und dass dein Vertrauen wiederum missbraucht wurde, deine Leichtgläubigkeit ausgenutzt, macht es nicht besser. Stell dir vor, du bist schuldig geworden. Und stell dir vor, es gibt keinen Weg, es wieder gut zu machen.
Der Sohn in unserer Geschichte weiß ganz genau, dass er Mist gebaut hat. Er hat Dinge unwiederbringlich zerstört. Die Hälfte dessen, was sein Vater besaß, ist dahin. Er hat keine Möglichkeit, das wieder gutzumachen.

Es gibt ein „Zu spät“ in unserem Leben. Es passiert, dass Dinge so zerbrechen, dass man sie nicht mehr kitten kann. Dass wir die Schätze, die wir im Leben haben, für immer verlieren. Manchmal machen wir kleine Geschenke, um Fehler wieder gutzumachen. Bringen Blumen mit. Backen einen Kuchen. Aber es gibt Momente im Leben, da kann man keinen Kuchen mehr backen. Weil die Person, an der wir uns schuldig gemacht haben, nicht mehr da ist. Weil keine Möglichkeit mehr besteht, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Weil da etwas in uns oder jemand gestorben ist.

Als der Sohn gegangen ist, hat sein Vater für ihn, und hat er für seinen Vater faktisch aufgehört zu existieren. Ein vollständiger Abbruch der Beziehung. Sie sind füreinander gestorben. Der Vater hat keinen Sohn mehr. Der Sohn hat keinen Vater mehr. Das Erbe ist ausbezahlt. Schluss und vorbei. Es gibt für ihn keinen Weg zurück. Der Vater, der sich immer liebevoll um sein Kind gekümmert hat, dessen Hände warm waren und der immer so gut gerochen hat, den gibt es nicht mehr. Eigentlich bleibt dem Sohn nichts anderes übrig, als seinen Verlust, seine Not zu betrauern. So wie der Sohn in der Geschichte ganz am Anfang des Gottesdienstes. Es bleibt eigentlich nur noch das Grab und die Tränen. Und die Hoffnung, irgendwann wieder auf die Beine zu kommen. Wie auch immer. Tote stehen nicht mehr auf.

Doch die Geschichte im Lukasevangelium ist noch nicht zu Ende.
Als er an seinem absoluten Tiefpunkt angekomen ist, trifft der Sohn eine unfassbare Entscheidung:

Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. 19 Ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! 20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küßte ihn. 21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße. 22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße 23 und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; laßt uns essen und fröhlich sein! 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.

Der Sohn macht sich auf den Weg zurück zu seinem Vater. Und er weiß ganz genau, dass er nicht mehr derselbe ist, der damals das Vaterhaus verlassen hat. Er weiß, dass das Verhältnis zu dem Mann, der einmal sein Vater war, unwiederbringlich zerstört ist. Er weiß, womit er zu rechnen hat: Mit einem kühlen : “Ich kenne dich nicht”. Damit, abgelehnt und fortgeschickt zu werden. Allenfalls damit, geduldet zu werden. Tote stehen nicht wieder auf.

Dass der Sohn den Mut aufbringt, sich auf den Weg zurück zu seinem Vaterhaus zu machen, ist alleine schon unglaublich. Er gesteht sich ein, dass er alles falsch gemacht hat. Sich selbst und dann auch seinem Vater. Demjenigen, dem er in seinem Leben am meisten zu verdanken hatte. Und den er in seinem Leben am meisten verletzt hat. Weil er sich entschlossen hat, sein Leben ohne diesen Vater zu führen. Weil er glaubte, auf seine Hilfe nicht angewiesen zu sein. Weil er seine Zuneigung und seine Güte unendlich ausgenutzt hat. Der Sohn weiß genau: Für meinen Vater bin ich gestorben. Tote stehen nicht wieder auf.
Und doch macht er sich auf den Weg.

Und dann geschieht, was so unfassbar ist: Die Toten finden einen Weg zurück ins Leben. Was zwischen Vater und Sohn passiert, ist viel mehr als nur eine Versöhnung. Es ist, als würde die tote Mutter des Mannes in der ersten Geschichte aus dem Grab auferstehen. Als wäre sie plötzlich wieder da, ihre Hände warm, ihr Geruch so gut wie immer.
Die Geschichte vom Verlorenen Sohn, wie wir sie nennen, ist eine Geschichte der Heilung. Der Überwindung unüberwindbarer Grenzen. Ja, sie ist eine Geschichte der Auferstehung der Toten.

Jesus erzählt diese Geschichte nicht, um uns zu sagen: So sollst du dich verhalten. Sei bereit zu vergeben, wenn andere sich an dir schuldig machen. Sieh deine Fehler ein, gib sie zu und sei bereit, dich zu entschuldigen. Das alles ist gut und richtig. Aber Jesus erzählt diese Geschichte vor allem, um uns zu zeigen:
So ist Gott! Bei Gott ist möglich, was uns unmöglich erscheint. Er überwindet Grenzen, die uns unüberwindbar scheinen. Bei ihm wird wiedergutgemacht werden, was nicht wiedergutzumachen ist. Er erweckt zum Leben auf, was längst gestorben ist.

In unserem Leben gibt es solche Dinge. Dinge, die wir nicht wiedergutmachen können. Die vorbei sind und die nie gut geworden ist. Wo ein aufmunterndes “Das wird schon wieder” nie sein Ziel gefunden hat. Dinge, die zurechtzurücken außerhalb unserer Kraft liegt. Wo etwas – oder jemand – gestorben ist. Aus und vorbei. Für immer. Und wenn uns das klar ist, wiegt es unendlich schwer. Mir einzugestehen, dass etwas in meinem Leben unwiderbringlich verloren ist. Unentschuldbar schief gegangen.

Die Geschichte vom Verlorenen Sohn bringt einen Hoffnungsschimmer in Zeiten und in Leben, wo es keine Hoffnung gibt. Es ist mir unerklärlich, was den Sohn dazu gebracht hat, sich auf den Weg zurück zu seinem Vater zu machen. Woher er die Kraft genommen hat. Die Aussicht darauf, auch nur von seinem Vater wahrgenommen zu werden. Entscheidend ist: Er hat es getan. Und die Toten konnten wieder auferstehen.

Und dann gab es ein Fest. Ein rauschendes Fest. Ein Fest, wie es noch nie eines gegeben hatte in diesem Haus. Unendlicher Verlorenheit folgt unendliche Freude. Wer hätte gedacht, dass das noch möglich sein würde …?

Wir wollen gleich zusammen das Abendmahl feiern. Wir alle sind eingeladen zu einem Festmahl am Tisch Gottes, unseres Vaters. Dieses Gottes, der die Macht hat, lebendig zu machen, was gestorben ist. Wir dürfen an seinen Tisch kommen. Und er macht uns das Angebot, alles abzulegen, was uns bewegt. Was uns belastet. Wir dürfen ihm bringen, was verloren und gestorben ist. Wo wir schuldig geworden sind. Wo wir etwas unwiederbringlich verloren haben.
Er möchte uns annehmen. Er möchte heilen. Er möchte lebendig machen.

Wir werden vor dem Abendmahl Gelegenheit haben, unsere Fehler, unsere Wunden, unsere dunklen und toten Punkte vor Gott zu bringen. Jeder für sich in der Stille. Um uns von ihm mit den liebenden Augen des Vaters ansehen zu lassen. Um uns von ihm empfangen zu lassen. An seinem Tisch. Zu seinem Freudenfest.

Steh auf, geh zu deinem Vater und sage zu ihm: Vater, ich habe Schuld auf mich geladen. Das darfst du und das kannst du, weil du den Blick des Vaters auf dich kennst. Weil du weißt, wie er über dich denkt. Weil du weißt, dass er das unmögliche möglich machen kann. Wo Schuld nicht wieder gutzumachen scheint. Wo Wunden in unserer Seele unheilbar erscheinen, breitet der liebende Vater seine Arme aus und empfängt dich. Er steht am Fenster und wartet voller Freude und Ungeduld darauf, dass du zu ihm kommst. Jeden Tag. Immer wieder.
Er wartet darauf, heil machen zu dürfen, was zerbrochen ist. Er wartet darauf, ins Leben zu rufen, was gestorben ist.
Und wenn du kommst, dann gibt es nichts mehr, was ihn hält. Wenn er dich von Weitem erblickt, dann läuft er dir entgegen.

Amen.