Der kluge Verwalter

Eine Geschichte zu Lukas 16,1-8

Anton ist alt geworden. Alt und langsam. Er läuft durch die Straßen in seinem Ort. Er schlurft ein wenig mit den Füßen in den zerschlissenen, schweren Schuhen. Die Jacke hängt lose über seinen schmal gewordenen Schultern. Er hat kein Ziel, er läuft einfach durch die Straßen. Seine Arbeit? Die kann er nicht mehr tun. Der Dorfladen war sein Arbeitsplatz, damals. Am Tresen stand er, jeden Tag, von früh bis spät. Nur Dienstag nicht, da hatte er frei. Am Tresen stand er und wog Mehl und Nüsse. Zählte Äpfel in Beutel und wickelte Salat in Papier. Tippte Zahlen in die Kasse, die jedesmal mit einem leisen Pling! aufaprang, wenn abgerechnet wurde. Nahm Geld aus vielen Händen, Münzen, klein und klimpernd, ab und zu auch Scheine. Anton lächelte durch die Zahnlücke, die er schon immer zu haben schien. Egal, wer kam, Anton lächelte und fand ein gutes Wort für jeden, der noch Butter brauchte oder Salz oder die Zeitung. Anton kannte jeden, der hierher kam. Jede Frau, die Zucker kaufte um die Kirschen einzuwecken und jedes Kind, das drei Bonbons holen wollte vom Taschengeld oder im Sommer mal ein Eis.
Dem alten Meyer hatte er gehört, der Laden. Anton war angestellt und dienstags, da stand Meyer selbst am Tresen. Dienstags war nicht so viel los. Den alten Meyer störte das nicht, dann hatte er noch Zeit, das Lager zu prüfen, nebenbei. Und die Leute, wenn sie konnten, warteten auf Mittwoch mit dem Einkaufen. Auf Anton.
Doch als der alte Meyer starb, da kam ein Mann aus der Stadt, von einer Kette. Mit einer Aktentasche und Meyers Büchern unterm Arm stand er im Laden, eines Tages, als Anton gerade die Eier für Frau Koch eingepackt hatte. Und er sagte, der fremde Mann, sie wollten den Laden kaufen. Eine Filiale sollte er werden von der Supermarktkette in der Stadt. Nahkauf oder so sollte er jetzt heißen, ist ja auch egal. Ob er denn bleiben könne, wollte Anton wissen. „Ja schon“, sagte der Mann. Man werde das alles klären. Unterschreiben müsse er hier. Sein Gehalt bekäme er – ob er eine Kontonummer angeben könne? Das könnte er, doch dienstags, da habe er frei, das müsse sein. Und als sie alles geklärt hatten, ging der Mann zurück in die Stadt und immer dienstags schickten sie einen, der den Laden übernahm und in die Bücher und ins Lager schaute.

Lukas 16
Jesus sagte zu seinen Jüngern: Es war ein reicher Mann, der hatte einen Verwalter; der wurde bei ihm beschuldigt, er verschleudere ihm seinen Besitz.
2 Und er ließ ihn rufen und sprach zu ihm: Was höre ich da von dir? Gib Rechenschaft über deine Verwaltung; denn du kannst hinfort nicht Verwalter sein.
3 Da sprach der Verwalter bei sich selbst: Was soll ich tun? Mein Herr nimmt mir das Amt; graben kann ich nicht, auch schäme ich mich zu betteln.
4 Ich weiß, was ich tun will, damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde.
5 Und er rief zu sich die Schuldner seines Herrn, einen jeden für sich, und sprach zu dem ersten: Wie viel bist du meinem Herrn schuldig?
6 Der sprach: Hundert Fass Öl. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich hin und schreib flugs fünfzig.
7 Danach sprach er zu dem zweiten: Du aber, wie viel bist du schuldig? Der sprach: Hundert Sack Weizen. Er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein und schreib achtzig.
8 Und Jesus lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte.

Immer montags, das wusste Anton, immer montags kam Irma in den Laden. Brot brauchte sie und Butter, etwas Käse und Eier vielleicht. Die Wurzeln zog sie selbst im Garten, Zwiebeln und Kartoffeln auch. Irma brauchte ja nicht viel, sie war allein, der Mann gestorben, lange schon, Kinder gab es nicht. Und auch kein Geld. Bezahlen konnte Irma selten. Montags kam sie immer, wenn Anton da war, dienstags nie. Ihr Brot legte er schon beiseite und ihre Butter, morgens gleich. Wenn sie kam, dann sah er sie kurz fragend an. Manchmal legte sie ein paar Münzen auf den Tresen. „Heut reicht es, Anton, heut zahle ich alles“ sagte sie dann und Anton zählte absichtlich falsch und legte die Waren in ihre ausgestreckten Hände, kaum größer als die von einem Kind. Und wenn sie nichts brachte, blieb sie still und trotzdem gab er ihr das Brot, ein kurzer Blick und ganz viel Dankbarkeit. Die Seite im Notizbuch, in der er aufschrieb, was sie schuldig war, reichte schon lange nicht mehr aus.
Und da war Hans, der Kleine von den Nachbarn. Gleich nebenan wohnte er und Taschengeld hatte er keins. Neidisch blickte er auf Elsa, mit den feinen Schuhen und den Spitzensöckchen, das Kleidchen immer rein und weiß, die frische Brötchen kaufte und für sich selbst auch immer noch eine Tafel Schokolade. Anton winkte dann den kleinen Hans zu sich und ließ ihn in das große Glas mit den Bonbons greifen. Oder legte Schokolade obendrauf, wenn er die Zeitung für den Großvater holte.
Und da war Gretel, mit den sechs Kindern, der der Mann weggelaufen war. Und die oft nicht wusste, was sie morgen in die Suppe schneiden sollte außer Wasser und Petersilie. Anton hatte Gretel gern und ihren Ältesten mit den wachen, klugen, Augen, die ernst und traurig in die Welt sahen. Manchmal nahm Anton einen Sack Kartoffeln mit am Abend. Die, die schon keimten und die keiner haben wollte. Oder die angedrückten Äpfel, die Orangen, die schon schrumpelten. Und legte sie vor Gretels Tür. Er klopfte nicht, denn er wusste, sie würde es nie nehmen. Doch wenn er später noch einmal vorbeikam, war der Sack immer weg und manchmal sah er Gretels dankbare Augen hinterm Vorhang, nur ganz kurz.

Es war ein Mittwoch. Gleich am Morgen merkte Anton, das etwas nicht so war wie sonst. Die Ladentür war schon offen, als er kam. Und hinter dem Tresen stand er wieder. Der Mann aus der Stadt. Mit dem Aktenkoffer und dem feinen Mantel. Anton schloss die Tür hinter sich und blieb stehen. „Herr Berger?“ – „Ja, was gibt’s?“ Der Mann legte das Notizbuch mit den Zahlen auf den Tisch. Darin, was Irma und manch anderer schuldig war. Und er klappte einen Aktenordner auf und blätterte darin.
„Die Zahlen, Herr Berger, die Zahlen stimmen nicht. Der Gewinn ist viel zu niedrig, unsere Waren viel zu billig. Das passt nicht zusammen, Herr Berger. Die Vorgaben waren andere. Herr Berger, so geht das nicht. Ich gebe ihnen sechs Wochen. Und dann will ich, dass der Laden läuft, sonst hat das Konsequenzen, Herr Berger.“
Anton nickte und schloss die Tür, als der Mann den Laden verließ. Doch als Irma nächsten Dienstag wieder kein Geld bringen konnte und als Gretels Kinder wieder hungrig blieben, konnte er nicht anders, als es wieder tun. Und als die sechs Wochen abgelaufen waren, nahm er das Notizbuch und strich Irmas Schulden, sodass nur noch die Hälfte blieb. Und die von allen anderen auch. Die neuen Zahlen zeigte er ihnen. Irma, Gretel, Hans. Und dann kam er wieder, der Mann und er warf Anton raus.

Und jetzt geht Anton durch die Straßen. Hebt die Füße kaum, die große Jacke über den schmal gewordenen Schultern. Und wenn er bei Gretel vorbeikommt, dann schickt sie ihre Jüngste raus. Die nimmt Anton bei der Hand und drinnen sitzt er mit am Tisch. Und isst mit ihnen von der Suppe, Fleisch und Brot bezahlt vom Ältesten der jetzt Arbeit hat in der Stadt.
Und wenn er Hans trifft, der den Großvater besucht, so oft er kann, dann sagt er: Warte, Anton, warte, und geht zum Laden und kauft für ihn die Zeitung und einen Beutel mit Lakritz, das Anton so liebt und drückt es ihm mit einem Lächeln in die Hand. Und damals, als die alte Irma starb, da fand man in ihrer Stube ein Etui mit ein paar Münzen und ihrem Testament. Anton sollte das Haus erben und das Grundstück und alles, was darin war, viel war es nicht, doch seines ist es nun. Und immer ist es voll mit Menschen und mit Wärme und mit Licht. Weil einer Kerzen bringt und ein anderer Kaffee, weil jemand Kuchen backt für Anton und ihn mit ihm isst.

Und Jesus lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte.

 

Schritt für Schritt

Warum es nicht gut ist, nach einer Trauerfeier „in aller Stille“ auseinander zu gehen.

Ein Schritt noch. Ein Schritt. Und wieder einer. Vor, nur vor den Fuß. Ganz nach vorn. Da ist dein Platz heute. Ganz nach vorn, da, wo du niemand ansehen musst. Ganz nach vorn, da wo nur noch die Blumen sind und das Kreuz und die Urne. Und das Bild. Das Bild, das du nie vergessen wirst. Und du gehst. Schritt für Schritt. Ganz nach vorn. Und du bleibst hier und kannst es nicht fassen, dass es wirklich du bist, die hier steht weil er nicht mehr neben dir geht. Und eine Hand ergreift deine und hält sie und zieht dich, dass du dich setzt. Ganz nach vorn. Du kannst nichts sehen. Nichts und niemand, im Tränennebel. Nur das Bild. Und du kannst nichts hören, alles klingt verwaschen und verrauscht. Nur ein paar Worte. Seinen Namen. Ein paar Töne. Seine Musik. Und die warme Hand die deine hält, kalt, klamm und verzweifelt.

Dann wieder ein Schritt. Noch einer und noch einer. Hinterher, da wo sie gehen, in schwarz und still und unbegreiflich. Und zu sehen, wie sie ihn nehmen und hinablassen in die Erde. Und es fühlt sich an, als bist nicht du die, die hier steht und als ist nicht er der, der da geht und als ob die Welt nicht weitergeht. Und sie stützt dich, die Hand, als du die Erde nimmst, in deine. Kalt und feucht. Erde und Blumen und du riechst sie, die Endgültigkeit und die Unendlichkeit. Und du stehst und schweigst und blickst nicht auf, als sie an dir vorübergehen und dich ansehen mit Traurigkeit, unsicher und verzagt und kein Blick ins Auge geht.

Vom Leben hast du was gehört. Vom Leben und zu Hause sein. Von Hoffnung und von weitergehen. Doch es ist schwarz da drin, in dir, so schwarz wie in dem Loch, das bald geschlossen wird und in dem er jetzt liegt mit Blumen und mit Erde.

Die Hand sie greift nach dir. Ein Schritt. Und noch ein Schritt. Geh weiter. Immer nur ein Schritt, denn nur einen kannst du tun auf einmal und weiter sehen musst du nicht. Ein Schritt. Die Hand, sie hält dich, lässt nicht los. Ein Schritt. Und eine Tür. Hier ist es warm. Und hell. Du blickst nicht auf, noch nicht. Die Hand, sie führt dich und wieder setzt du dich. Ein Tisch. Ein Teller. Eine Tasse, in der Kaffee dampft. Ein Löffel klirrt leise gegen Porzellan. Gedämpfte Stimmen. Vertrauter Duft. „Trink!“ sagt eine Stimme. Mühsam hebst du deine Hand. Die Tasse ist warm und wärmt die Spitzen deiner Finger. Die Milch macht den Kaffee sanft und du trinkst. Schmeckst erst nur die Wärme, dann die Süße und den Duft. Und du ahnst, dass du am Leben bist. Trotz allem und noch immer. Und du wagst es und du hebst den Blick. Da sind Augen, die dich sehen. Die dich kennen und nicht fragen. Die nichts wollen und verlangen. Da sind Stimmen, die du hörst. Langsam wird das Murmeln lauter. Sie sind da. Diese Menschen. Hier mit dir. Und für dich. Ihr seid zusammen. Jetzt hier. Ohne ihn, aber mit dir. Ihr seid zusammen. Essen. Trinken. Reden und aufatmen. Und du ahnst, dass da noch Leben ist, in dir. Tief verborgen noch im Dunkel, aber ein erster Lichtstrahl bahnt sich mühsam seinen Weg. Bleib nicht allein. Du bleibst nicht allein. Worte hörst du wieder. Von Hoffnung und nach vorne sehen. Von Leben und von Gott. Der Wege hat. Und Wege findet, auf denen dein Fuß gehen kann. Schritt für Schritt.

Und du atmest tief. Und atmest auf. Du trittst ins Freie. Hebst den Kopf. Siehst Richtung Himmel. Schritt für Schritt wird dein Leben dich dahin führen. Mit der Hand an deiner Seite. Und ihm und Gott in deinem Herzen. Da ist etwas gestorben, in dir, als er ging. Doch jetzt ahnst du und beginnst zu glauben: Du wirst leben. So wie er. Schritt für Schritt.

Jesus sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.“ Johannes 11,25

Gut genug

Predigt zum Reformationstag 2017

1)

Jetzt kennen wir sie doch alle. Die Geschichte von Martin Luther. Dem Mönch, der nicht so wollte, wie er sollte. Der in seinem Studierzimmer saß und sich gequält hat. Die Bibel gewälzt. Und dann Dinge gesagt, die unerhört waren.

Wir kennen sie doch jetzt alle, oder nicht? Selbst die Sendung mit der Maus hat sie vorgestern erzählt, die Geschichte von dem Mönch und seinen Ideen. Seinen Thesen und seiner Familie. Dem Aufruhr und dem Umbruch. Dem Buchdruck und dem Cranachbild.

Jetzt kennen wir sie doch alle. Und das ist so auch gut und auch richtig. 500 Jahre und es ist viel passiert. Und wir haben ihm viel zu verdanken. Die Kirche. Die Gesellschaft. Das aufgeklärte Abendland.
Ganz ehrlich: Ein Teil von mir ist froh, wenn es das dann war mit Reformation und Luther und dem ganzen Tamtam. Fünf Jahre hat die Kirche ihn gefeiert und gelobt, heraufbeschworen und geehrt. In Ordnung. Aber jetzt ist es dann auch mal gut.

Und ich frage mich: Was bleibt? Ein Playmobilmännchen im Regal? Oder der Keksausstecher in Lutherform, der ab jetzt in der Schublade verrostet? Was er wohl sagen würde, wenn er das sähe? Sich selbst als Plastikfigur – oder als Plätzchen? Ich glaube, er wäre entsetzt. Über den Rummel um seine Person. Und über die Merchandise-Artikel, die groteske Formen angenommen haben. Was bleibt, Herr Luther? Was bleibt für mich? Für mein Herz und meine Seele, abseits von Feiern und Tamtam?

Herr Luther, was wollten Sie denn eigentlich?

2) 

Was wir alle wissen: Er hat die Kirche reformiert – dabei hat sie sich gespalten – schade eigentlich. Er war gegen Abzocke und Ablasshandel – gut, den armen Leuten Geld aus der Tasche ziehen, das geht ja gar nicht. Er hat die Bibel übersetzt – wichtig, endlich können alle, die lesen können, sie selber lesen. Und dann waren da noch die anderen Sachen. Die unschönen. Das mit den Bauernkriegen. Seine antisemitischen Äußerungen. Luther war ganz schön vielschichtig. Ihn als Held zu feiern – nein, das wäre wohl nicht richtig. Aber was ist denn der Kern? Was ist denn das, was bleibt und was wirkt?

Der Ablasshandel. Das war wohl das, was Luther anfangs am meisten gestört hat. „Bezahl nur Geld und dann wird Gott dir deine Höllenstrafen erlassen.“ Die Menschen damals hatten Angst. Angst vor der Hölle. In Ewigkeit schmoren, Schmerzen und Qualen erleiden. Diese Angst hat Luther beendet durch seine bahnbrechende Entdeckung: Du musst dir Gottes Gnade und Vergebung nicht verdienen – und schon gar nicht erkaufen.

So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Römerbrief, Kapitel 3.

Der Glaube macht dich gerecht. Der Glaube bringt dich in den Himmel. Was Gott tut, nicht was du tust oder bezahlst, bewahrt dich vor dem Höllenfeuer, sagt Luther. Und der Sturm bricht los.

Darüber können wir doch eigentlich nur milde lächeln. Wir Menschen von heute. Hölle und Feuer? So ein Quatsch. „Die Kirche hat die Hölle nur erfunden, um den Menschen Angst zu machen.“ So sagt es einer unsere Konfirmanden. Um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. So etwas glauben wir nicht, wir aufgeklärten, modernen Menschen.

Und überhaupt, das mit dem Glauben und mit Gott, ist das nicht alles nur ein Gleichnis, was für Kinder zum Trösten vielleicht? Engel, ja, die sind ganz toll, aber Gott und Glauben und die Hölle? Jesus, der war ein guter Mensch, jawohl, und die Geschichten über ihn und die Auferstehung, das sind doch alles Gleichnisse, oder sollen wir etwa wirklich glauben, dass er Gottes Sohn war? Müssen wir „Gerecht werden“, um vor Gott zu bestehen? Ein Gott, der uns und unser Leben beurteilt – ist das denn nicht Schnee von gestern?

So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.

Luther liest im Römerbrief. Und er ist tief bewegt von der Frage nach der Gerechtigkeit. Der Frage danach, was einen Menschen gut macht. Was ihn bestehen lässt. Vor anderen. Und, letztendlich: Vor Gott. Nicht zu bestehen: Das wäre die Hölle. Der Teufel, der in der Studierstube an der Wand sitzt und ihm zuflüsterst: Du kannst es nicht. Du schaffst es nicht. Du bist nicht gut genug.

Vielleicht haben die meisten von uns das Problem nicht, das Luther hatte. Die Angst vor der Hölle und dem Teufel. Das ist doch alles mittelalterlich und überholt, oder? Die Hölle gibt es nicht.

Doch mir klingt in den Ohren ein Satz, den der Theologe und Schriftsteller C.S. Lewis einmal schrieb. Ein Dämon in seinen Anweisungen an einen Unterteufel: „Wenn die Menschen denken, dass es dich nicht gibt, das ist das Beste, was dir passieren kann.“

Wenn die Menschen denken, dass es Gott nicht gibt, der ein Urteil über und spricht. Und dass es die Hölle nicht gibt – die Möglichkeit, nicht zu bestehen, nicht gut genug zu sein – dann landen sie doch mittendrin.

Was heißt das denn: es gibt sie nicht, die Hölle? Wenn es sie nicht gibt, warum brauche ich denn dann den Himmel und den Glauben, den Gott? Nur zum Wohlfühlen und Engel an die Seite wünschen, zum Feste feiern und als Beschützer in der Not?

3)

Und ich wage zu behaupten: Es gibt sie, die Hölle. Den Ort, an dem Gott nicht ist. Den Ort, an dem das Licht des Lebens nicht ist. Den Ort, an dem kein Leben ist und keine Liebe. Ich glaube, es gibt sie, die Hölle. Ich glaube, es ist ein Ort der Hoffnungslosigkeit. Der ewigen Traurigkeit. Ein Ort der fern ist, weit weg von Gott und seiner Liebe.

Ich glaube, es gibt sie die Hölle. Die Hölle, das heißt, nicht gut genug zu sein. Leisten müssen. Immer und immer wieder. Von Anfang an. Die Hölle, das heißt: Du bist nicht gut genug. Für die anderen, mit denen ich doch gerne gespielt hätte, als Kind, im Fußballverein. Für den Vater, der so gerne stolz auf mich gewesen wäre. Die Hölle auf Erden, ist was Menschen einander antun. Weil sie sich beweisen müssen. Kinder in Damaskus, die verhungern. Menschen, die andere eiskalt quälen. Folter und Qualen. Es gibt sie, die Hölle. Orte, an denen Gott nicht ist. Krieg und Not und Gewalt. Terror und Hass, Ablehnung und Mobbing. Männer, die ihre Frauen schlagen oder ihre Kinder missbrauchen. Es gibt sie, die Hölle. Und es gibt Menschen, die gehen mitten hindurch. Und immer klingt darin der Wettkampf und die Konkurrenz: Ich. Ich bin gut. Und wenn sich das ins Extrem steigert dann arbeiten Menschen sich und ihre Existenz an anderen ab: Ich bin besser als du. Das Kind, das keine Liebe und Anerkennung von seinen Eltern bekommt und auch nicht von anderen. Das holt sie sich durch Leistung. Oder durch Blödsinn. Oder im Extremfall dadurch, dass es andere fertigmacht. Ich bin jemand. Ich bin etwas wert. Ich bin gut genug.

Und der Teufel sitzt an der Wand, in der Studierstube oder unter dem Bett und flüstert dir ins Ohr: Du kannst das nicht. Du schaffst es nicht. Du bist nicht gut genug. Du landest ewig in der Hölle.

Ich glaube, es gibt sie die Hölle. Bewertet zu werden, nach dem was wir leisten. Wie die DSDS-Jury, die da sitzt und dich anschaut, obwohl du gar nicht singen kannst. Und alle schauen zu. Das ist die Hölle.

Und in den Dimensionen Gottes, die über unsere Welt hinausgehen und mit denen wir uns oft so schwer tun, ich glaube, da gibt es sie auch. Himmel: Das heißt, bei Gott sein. In seinem Licht. In seiner Liebe. Hölle: Das heißt, von ihm getrennt sein. Dort, wo er nicht ist. Er, von dem alles Gute und Warme ausgeht.

Ich glaube, es gibt sie, die Hölle. Und ich glaube auch, dass es den Himmel gibt.

Die alte Kirche sprach vom Gericht, das auf uns wartet, wenn wir diese Welt verlassen. Mit Gott als dem Richter, der entscheidet, wo wir landen. Links oder rechts, hop oder top. Ich glaube, dass es das gibt, das Gericht. Ich male keine apokalyptischen Bilder und wie in einem Gerichtssaal sieht es dort auch nicht aus. Ich glaube, Gott gegenüberstehen, das bedeutet total im Licht stehen. Bedeutet, zu sehen, wie Gott sieht. Unverstellt. Die Seele jedes Menschen. Meine eigene Seele und die Qualen und Leiden, die wir einander zufügen. Und ich glaube, das kann die Hölle sein. Wie nackt dastehen vor einer festlich gekleideten Jury. Das kann die Hölle sein. Die Wahrheit. Zieh dich aus. Karten auf den Tisch. Du bist nicht gut genug.

Denn tief drinnen, da spüre ich das. Ich bin nicht gut genug. Nie reicht aus, was ich tue. Der offene und ehrliche Blick auf mein Herz, der kann nur erkennen: Ich bin nicht gut genug. Das ist die Hölle, oder?

Ich weiß nicht, wie es ihnen geht. Aber ich brauche Gnade. Immer wieder. Wie das tägliche Brot. Das Gnadenbrot. Die Gnade und die Vergebung der Menschen um micht herum. Meines Mannes. Meiner Kinder. Weil es immer wieder nicht funktioniert. Ich immer wieder nicht funktioniere. Und hinter Erwartungen zurückbleibe.

Ich weiß nicht, wie es ihnen geht, aber ich brauche Gnade. Da ist dieser Teufel, der immer wieder flüstert: Du bist nicht gut genug. Gestern als ich diese Predigt schrieb, da saß er dort. Und wollte mir weismachen, ich hätte nichts zu sagen. Diese alte Botschaft. Dieser alte Luther. Dieser alte Bibeltext. Die hätten uns doch nichts zu sagen. Ich ringe und ich scheitere. Und ich brauche Gnade.

Und da kommt das alte Wort ganz nah. Mensch, du wirst nicht gerecht durch das was du tust. Du wirst nicht gut, durch das was du leistest. Denn das würde sowieso nie gut genug sein. Und solltest du mal nachlassen, bist du sofort raus. Das ist die Hölle. Fern von Gott.

Jesus ist da hingegangen. An diesen Ort, fern von Gott. Obwohl er der einzige war, der gut genug gewesen wäre. Für den die Daumen immer hochgegangen wären. Der es ausgehalten hätte in Gottes Licht. Er ist dort hingegangen. Für mich und für dich. Weil wir es nicht können. Weil wir nicht bestehen. In Gottes Licht. Er hat es getan. Und wir müssen nichts mehr tun. Können nichts mehr tun.

Mensch, du wirst nicht gerecht, durch das was du tust. Sondern durch Glauben an die Gnade.

Würde Luther sagen. Gnade. Du bist gut genug. Das darfst du glauben. Und mehr musst du nicht, als glauben. Denn du bist gut genug. Für Gott. Und damit für die anderen und für dich.

Ich glaube, es gibt sie, die Hölle. Und ich glaube, ohne Jesus wären wir jeden Tag mittendrin. In der Leistungsfalle. Und ohen Jesus würde sie auf uns warten. In dem Moment, in dem wir unverstellt sehen. Das Leben und die Herzen der Menschen und uns selbst.

Was Martin Luther damals bewegt hat, das war tief. Das ging auf den Grund unseres Lebens, ans Eingemachte. Im Laufe der Jahre hat sich so einiges darüber geschoben. Plastikfiguren und Keksausstecher zuletzt.

Ich weiß nicht, wie es ihnen geht. Aber ich brauche die Gnade. Den Zuspruch: Du bist gut genug. Dringender als Jubiläumsfeiern und Lutherbonbons. Ich brauche die Gnade wie das tägliche Brot. Gnadenbrot. Das werden wir nachher miteinander essen. Das Gnaden-brot, das Abendmahl. Gott der zu uns sagt: Du bist gut genug. Du darfst in meinem Licht stehen. Davon lebe ich. Das hält mich am Leben. Jetzt und in der Ewigkeit.

Amen.

Hinterher!

Andacht auf dem Kirchenkreistag

Lk 18,28-30
28 Da sprach Petrus: Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.
29 Er aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder verlässt um des Reiches Gottes willen,
30 der es nicht vielfach wieder empfange in dieser Zeit und in der kommenden Welt das ewige Leben.

 

Wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.

Wir haben, was wir hatten, verlassen.

Verlassen um des Reiches Gottes Willen.

Mir nach! Ruft Jesus scheinbar aus diesen Zeilen. Und ich fühle mich gerufen. Mir nach! Wie ein Anführer, der voran marschiert. Mir nach! Und nur voran, voran. Schau nicht zurück, marschiere mit und halte Schritt. Sonst bleibst du zurück. Mir nach! Gib auf, was du besitzt. Lass zurück, was dir wichtig war. Lass die Toten ihre Toten begraben und ach, jetzt halte dich endlich nicht mehr mit dem unwichtigen Zeug auf. Schau nach vorn und lass dich nicht ablenken, mir nach!

So radikal. So konsequent. Und anders geht es nicht, wenn er ruft und ich glaube, dass das stimmt: Ganz oder gar nicht. Ein halber Christ ist kein ganzer Mensch. Also ihm nach. Die Zelte abbrechen und mitgehen, denn ein Zelt braucht er ja nicht, hat keinen Platz, wo er sein Haupt hinlegt. Also wir auch nicht, also ich auch nicht, denn ich habe hier ja keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suche ich – suche ich in ihm, der von sich sagt, er ist der Weg und die Wahrheit. Also Aufbruch und ihm nach.

Da ist etwas in mir, das sehnt sich nach dieser Radikalität. So wie die ersten Jünger. Mir nach, sagt Jesus und sie lassen alles stehen und liegen und gehen, weil sie spüren: Das hier, der hier, der ist der Weg und die Wahrheit und vor allem ist und hat er das Leben für mich – Leben im Überfluss.
Da ist etwas in mir, das sehnt sich danach, dass ich bereit bin, stehen und liegen zu lassen, was mich hält – Haus und Hof und Kinder und Bedenken. Finanzpläne und Jahresabschlüsse, Verpflichtungen und Zeitlimits, Tagesordnungen und Protokolle. Gebäudebedarfsplan und Jubiläumsfeiern – mir nach, ruft Jesus, was hält dich noch, was hält dich eigentlich, mich und mein Wort zu suchen, immer wieder neu und endlich ganz und gar? Denn, ach, alle eure Sorge werft auf ihn, er sorgt für euch! Also ihm nach.

Doch Mensch bleibt Mensch. Und Grenze bleibt Grenze. Und er kennt diese Grenzen. Er kennt mich und mein Herz. Er kennt die Bedenken. Er weiß, wie wir sind. Dass wir es nicht einfach können. Die Toten tot sein lassen. Auf Haus und Hof und Sicherheit verzichten. Auf Tagesordnungen und Protokolle. Auf Pläne und Strukturen. Und ich frage mich: Wie hat er das gemacht, damals, einfach so? Ohne seine Route auf den Predigtreisen durch Galiläa minutiös zu planen? Ohne die besten Predigtstätten vorher zu reservieren? Ohne Zielgruppenanalysen und Milieustudien durchzuführen? Wie hat er das gemacht und wie haben sie das ausgehalten, die Menschen, die ihm nach sind?

Er ging auf einen Berg um allein zu sein, heißt es einmal, allein mit Gott, zum Beten, kein „Mir nach!“ und kein „Lass alles zurück!“ in diesem Moment. Doch sie kamen trotzdem. Sie haben es gespürt: Da wo er hingeht, da wo er ist, da ist Gott. Und da ist gut sein. „Hier lass uns Hütten bauen!“ ruft Petrus in dem Moment voll Euphorie und liegt damit doch voll daneben. Ihm nach. Dahin, wo Gott ist. Da wollen alle hin, wir doch auch!

Doch Hütten bauen will er nicht. Und ich höre mich und höre uns in Petrus, fast schon ein bisschen weinerlich: Wir haben doch alles zurückgelassen, wo bleibt denn jetzt unsere Belohnung? Wo bleibt denn jetzt unsere Hütte, unsere Sicherheit? Wir haben ihn doch, den neuen, großen Aufbruch, die Errungenschaften, wir haben sie doch, damals vor 500 Jahren, wir haben ihn doch, den großen Held, der so anders war, so radikal. Wir haben ihn doch und wir tun doch auch alles. Wir haben doch alles versucht und berechnet und trotzdem bricht so vieles weg und hört so vieles auf und werden wir immer weniger und älter und schwächer und ärmer. Fast schon ein bisschen weinerlich höre ich uns in Petrus: Gott, wo bleibt denn jetzt unsere Belohnung? Unsere Mühe, unsere schönen Pläne, damit die Menschen wieder zu uns kommen. Ja, siehst du das denn gar nicht?

Sie haben keine Pläne gemacht, damals in Galiläa. Wenn Jesus eines nie getan hat, dann das: Er hat niemals funktioniert nach Plan. Er hat die Nähe Gottes gesucht. Und sie verkörpert. Und das ist es, was anziehend war. Was „mir nach“ gerufen hat aus jeder seiner Poren. Und dem man sich nicht entziehen kann, wenn man ihm wirklich begegnet.

Mir nach. Lasst uns Gottes Nähe suchen. Den Menschen, der sie verkörpert. Ihm nach. Vielleicht jenseits von Studien und Plänen. Jenseits von Tagesordnungen und Protokollen. Ihm nach. Denn was könnte sonst wirklich wichtig sein?

Sie hatten nicht viel zu verlieren, die Fischer damals in Galiläa, könnten wir sagen. Was haben sie schon aufgegeben? Was ist das schon gegen das, was wir verlieren könnten: Jahrhunderte der Traditionen, altehrwürdige Gemäuer, Geld und Ansehen.
Doch was ist das schon gegen das, was wir gewinnen könnten: Das Reich Gottes und das ewige Leben. Also: Ihm nach. Und die Sorgen auf ihn geworfen.

Amen.

 

 

 

 

 

Seele, flieg!

Psalm 103,2

Lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Sonne und Luft. Himmel und Erde. Regen und Wärme. Ein Haus und ein Bett. Ruhe und Frieden. Streit und Versöhnung.

Lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Feiern und lachen. Freude und Tränen. Fremde und Freunde. Große und Kleine. Jugend und Alter.

Lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Essen und Trinken. Duft und Aroma. Geschmack und Genuss. Kaffee und Rosen. Wein und Oliven.

Lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Worte und Taten. Hände und Füße. Hilfe und Halten. Geben und Nehmen. Denken und Danken.

Lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Arbeit und Freizeit. Heimat und Ferne. Nähe und Weite. Hügel und Felder. Berge und Meere.

Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Neues und Altes. Zukunft und Hoffnung. Stütze und Stab. Aufbruch und Neuland. Wandern und Wundern.

Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Meine Seele, vergiss es nicht in all dem, was dich beschwert und belastet. Beschäftigt und begrenzt. Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Denn was leicht ist und schön, kann verfliegen und scheinbar vergehen, weil das, was schwer ist stärker drückt und belastet.

Dabei, meine Seele, wäre es nicht schön, wenn das Gut schwerer wöge als das Schwere? Wenn in dir das überwiegt, was dich leicht macht, wie ein Karton voller Federn, der dich das Fliegen lehrt statt einem Sack voller Steine, der deinen Weg beschwert?

Darum, meine Seele, hast du die Wahl, manchmal, nicht immer, aber meistens hast du die Wahl: Ob du den Sack voller Steine schulterst und die Füße nicht vom Boden bekommst, oder ob du das Gute nicht vergisst, meine Seele, das Gott dir getan hat, und es dir ansteckst wie Federn und mit Leichtigkeit vorangehst – oder vielleicht fliegst in der Zuversicht, dass du noch mehr Federn finden wirst unterwegs.

Denn das Gute, das Gott dir tut, meine Seele, nimmt keine Ende. Denn alles was Gut und vollkommen ist, kommt von ihm.

Darum lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Mittendrin – der sinkende Petrus

„Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt.“ Matthäus 14,31

 

Sein Kleid ist nass. Von oben bis unten. Sein Kleid ist nass und seine Haare und seine Hand.

Denn die Wellen, die mich überrollen, die mir die Luft nehmen und meinen Füßen den Halt, die Wellen machen nicht Halt vor ihm.

Sein Kleid ist nass und seine Haare triefen, doch seine Hand ist warm und greift nach mir. Und ich ergreife sie, die nasse, warme Hand und ich verstehe:

Er ist hier bei mir. Mittendrin in Wind und Wellen. Triefend nass und tief berührt und felsenfest. Und mein kleiner Glaube wächst ein Stück, weil ich beginne, zu verstehen.

Dass er wirklich da ist, wo ich bin. Mittendrin.

Die heilige Familie

 

1
„Schau mal Schatz, die Bilder sind gekommen!“ Sandra schließt die Tür hinter sich. Mit dem Päckchen in den Händen, das der Postbote gebracht hat, geht sie ins Wohnzimmer. Es ist Samstag, alle sitzen noch am Frühstückstisch. Thomas, ihr Mann lächelt sie an. „Schön!“ Ihre beiden Kinder springen auf und wollen ihr das Päckchen aus den Händen reißen. Sandra lacht. „Langsam! Jetzt wascht euch erstmal die Hände, dann schauen wir zusammen rein.“ Sandra legt das Päckchen auf dem Couchtisch ab. Unter neugierigen Blicken holt sie den Inhalt heraus. Es sind die Fotos ihres Familienshootings, das sie vor ein paar Wochen beim Fotografen gemacht haben. Tolle Bilder sind das. Sandra und Thomas, mit den Kindern. Die Kinder gemeinsam und einzeln. Mal strahlen alle, mal strecken die Kinder frech die Zunge raus. Leons Zahnlücke sieht toll aus und überhaupt: alle wirken total glücklich. Sandra guckt kritisch. „Hmm, ich sollte doch noch ein paar Kilo abnehmen…“ „Ach Schatz, das ist doch egal.“ beschwichtigt ihr Mann. Er fand die ganze Sache mit den Bildern ja ziemlich teuer. Aber seiner Frau zuliebe hat er mitgemacht. Und sie sind ja wirklich schön geworden. Sandra rahmt die Bilder ein und hängt sie auf. Im Flur, da wo man sie gleich sehen kann, wenn man ins Haus kommt. Darüber kommt die Leinwand mit dem Schriftzug, die sie neulich bei Ikea mitgenommen haben. „Family“ steht in großen Buchstaben darauf, verziert mit zwei großen Herzen in pink. Jeder der ins Haus kommt sieht sofort, was hier wichtig ist. Die Familie. Darüber geht nichts. Als alles hängt, betrachet Sandra zufrieden ihr Werk. Was sind sie doch für eine hübsche Familie. Und es fühlt sich an, als hätte das Leben einen Sinn.

2
Jesus ist seit einiger Zeit in Galilääa unterwegs und redet über Gott, wo er hinkommt. Seine Botschaft ist neu und radikal. Er kommt nicht überall gut an. Vielen der strenggläubigen Juden passt nicht, was Jesus sagt. Und schon gar nicht, was er tut. Er will bewusst provozieren. Und erklären, wie Gott sich so einige Gesetze und Gebote eigentlich gedacht hat. Hunderte folge Jesus. Wollen ihn hören. Und sehen. Oft kommt er nicht mal zum essen, weil ihn so viele Menschen belagern. Er vollbringt Wunder. Er macht viele Menschen gesund. Seine Familie findet das alles eher peinlich. Sie fragen sich: Ist Jesus verrückt geworden? Und sie versuchen, die Familienehre zu retten. Ihn nach Hause zu holen. Damit er aufhört, so einen Aufruhr zu verursachen. Aber Jesus will davon nichts wissen. Als er wieder mal in einem Haus voller Menschen predigt, stehen die Mutter und die Brüder von Jesus draußen. Mk 3:

Sie standen vor dem Haus und schickten jemand, um ihn herauszurufen.
32 Rings um Jesus saßen die Menschen dicht gedrängt. Sie gaben die Nachricht an ihn weiter: »Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und fragen nach dir!«
33 Jesus antwortete: »Wer sind meine Mutter und meine Brüder?«
34 Er sah auf die Leute, die um ihn herumsaßen, und sagte: »Das hier sind meine Mutter und meine Brüder!
35 Wer tut, was Gott will, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter!«

Familie – und das Leben hat einen Sinn!?

3
Viola, eine Frau Mitte 30, ist schwanger.
Viola steht in der Ecke ihres Schlafzimmers. Von einer Freundin hat sie den Tipp bekommen, sich einen Geburtsaltar einzurichten. Sie fühlt sich eng mit dem Baby verbunden, das in ihrem Bauch heranwächst. Lange hat sie sich ein Kind gewünscht. Endlich hat es geklappt. Etwas unsicher ist sie immer noch, obwohl jetzt schon der 7. Monat zu Ende geht. Ob ihr Körper das schafft? Ob die Geburt gelingt? Sie will unbedingt aus eigener Kraft gebären, zu Hause, ohne medizinische Eingriffe. Im Einklang mit sich und nur ihren Lieben um sich. Dann werden sie eine Familie sein. Endlich. Auf der kleinen Kommode hat sie eine Figur aufgestellt. Einen Engel, der einen Säugling trägt. Daneben zwei Postkarten mit ermutigenden Sprüchen. Eine Kerze. Ein Tuch in warmen Farben. Immer wenn sie Zweifel bekommt, geht sie hierhin, zu ihrem Geburtsaltar. Macht ruhige Musik an und zündet die Kerze an. „Du schaffst das“ flüstert sie sich selbst zu. „Du kannst das. Du bist stark. Für deine Familie. Das Wichtigste, das es gibt.“

Familie – und das Leben hat einen Sinn!

4
Als seine Familie vor der Tür steht, sagt Jesus: „Wer sind meine Mutter und meine Brüder?“ Er hätte auch sagen können: „Was wollen die da draußen von mir? Die sind mir nicht wichtig.“ Was würde wohl Sandra zu diesem Satz sagen, die gerade die Bilder von ihrer Familie aufgehängt hat? Und Viola, die vor ihrem Geburtsaltar steht?

5
Stefanie und ihre Brüder haben sich immer gut verstanden. Als Kinder haben sie miteinander gespielt und gestritten, wie alle Kinder. Aber als Jugendliche wurden sie richtige Freunde. Gingen auf die gleichen Partys und hatten die gleiche Clique. Als dann die Ausbildung kam, zogen sie jeder woanders hin. Aber sie haben immer Kontakt gehalten. Wöchentlich telefoniert, sich viel besucht. Geschwister haben eben ein besonderes Verhältnis zueinander. Inzwischen haben sie selbst alle Kinder und auch die verstehen sich richtig gut. Eine Familie wie aus dem Bilderbuch. Aber seit ein paar Monaten ist alles anders. Der Vater ist gestorben, alt und lebenssatt, wie man so schön sagt. Aber über das Erbe werden sich Stefanie und ihre Brüder einfach nicht einig. Irgendwann ist einer zum Anwalt gegangen. Sie kommunizieren nur noch schriftlich. Wenn jetzt das Telefon klingelt, und sie erkennt die Nummer ihres Bruders, geht sie nicht dran. Mit denen will sie nicht reden. Mit denen ist sie fertig.
Wer sind meine Mutter und meine Brüder? Familie – und das Leben hat einen Sinn?

Sandra macht den letzten Karton zu. Obendrauf liegt das Bild. Das Bild, auf dem sie alle vier so schön in die Kamera lächeln. Leon mit der Zahnlücke. Die Leinwand mit dem „Family“-Schriftzug hält sie noch in der Hand. Lange schaut sie darauf. Schließlich stopft sie sie in die Mülltonne. Vor einem halben Jahr ist Thomas ausgezogen. Jetzt ist klar: Sie kann das Haus nicht halten. Sie hat eine Wohnung für sich und die Kinder gemietet. Manchmal ist der Schmerz kaum auszuhalten. Was bleibt denn jetzt? Das war doch ihr ein und alles – die Familie. Ihr Lebenssinn. Dass ihr das passieren konnte! Sie waren doch so glücklich.

6
Wer sind meine Mutter und meine Brüder?« Fragt Jesus.
34 Er sah auf die Leute, die um ihn herumsaßen, und sagte: »Das hier sind meine Mutter und meine Brüder!
35 Wer tut, was Gott will, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter!

Die Familie ist mein Lebensglück, mein Lebenssinn! Zu Hause ist da, wo die Menschen sind, die ich liebe! Für meine Kinder gehe ich bis ans Ende der Welt! Die Familie ist mein Ein und Alles! Wenn ich erst ein Baby habe, dann bin ich glücklich!

Familie ist so wunderbar. Zusammen sein. Gemeinschaft, nicht allein. Menschen, die ich und die mich lieben, egal, ob ich verschlafen im Pyjama an den Esstisch schlurfe oder ausgehfein zurechtgemacht bin. Die mich auch dann ertragen, wenn ich schlechte Laune habe und die ich ertrage. Die mich stützen und ein Zufluchtsort sind, wenn es Schwierigkeiten gibt. Ein Baby, Kinder – was für ein Geschenk! Familie ist wunderbar.

Aber es gibt so viele Sandras, die vor den Trümmern ihres Traumes stehen. So viele Stefanies, die ihre Geschwister nicht mehr sehen wollen. So viele Violas, die einfach keine Kinder bekommen. Familie – mein ein und alles? Und wenn sie zerbricht? Und wenn der Traum nicht wahr wird? Und wenn das Kind, dass ich mir immer gewünscht habe, nie kommt? Und wenn irgendwann jeder merkt, dass er sich selbst der Nächste ist? Dass Menschen das nicht können: meine Träume erfüllen. Meinem Leben Sinn geben, der immer trägt und hält. Weil Sandra Fehler hat. Weil Stefanie uneinsichtig ist. Weil das Leben nicht dafür da ist, unsere Wünsche zu erfüllen. Und schon gar nicht andere Menschen.

7
Wer sind meine Mutter und meine Brüder?
Wer tut, was Gott will. Und ich denke an das vierte Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren. Das will Gott. Die Familie in Ehren halten. Wertschätzen. Mit Respekt behandeln. Dann kann es klappen, mit Gottes Hilfe. Weil Gott die Familie zusammenhält und nicht meine Familie mein Gott ist. Der ich Altäre baue. Deren Bilder ich anbete. Und die nicht leisten kann, was ich ihr zumute: Mich rundum glücklich zu machen.

Jesus sagt nicht: Familie – brauche ich nicht. Aber die Perspektive ist wichtig.
Familie ist, wer zu Gott gehört. Familie ist mehr als das, was wir meistens darunter verstehen. Mehr als Verwandschaft. Dazu möchte ich noch eine Begebenheit erzählen, die ich einmal erlebt habe.

8
Nach dem Abitur habe ich für ein Jahr in Schottland gelebt und in einer Kirchengemeinde gearbeitet. Ich bekam dort Besuch von zwei Freunden aus Deutschland. Sie reisten durch Großbritannien, und nachdem sie bei mir gewesen waren, wollten sie noch London besuchen. Dort hatten sie noch keine Unterkunft. Sie fragten mich, ob ich vielleicht eine Idee hätte – es durfte nicht viel kosten. Ich wusste von einer Familie in der Gemeinde, die erst kürzlich von London nach Schottland gezogen war. Die fragte ich. Es gäbe da eine Dame in ihrer alten Londoner Gemeinde, sagten sie. Die habe ein Haus mit viel Platz darin. Dort nehme sie immer mal wieder jemanden auf. Ich telefonierte mit ihr, erzählte ihr von meinen Freunden. Die einzige Frage, die die Frau mir über meine Freunde stellte, war: „Are they believers?“ „Sind sie Christen?“ Als ich bejahte, sagte sie sofort zu. Die beiden reisten nach London und fanden bei ihr ein Dach über dem Kopf. Sie bekamen einen Schlüssel. Durften sich am Kühlschrank bedienen. Ein- und ausgehen, wann sie wollten. Geld wollte sie keines. Sie blieben vier Tage. Dann flogen sie wieder nach Hause.

9
„Wer tut, was Gott will, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ Und auf einmal ist die Familie riesengroß. Und über die ganze Welt verteilt. Schwestern und Brüder. Überall. Manche sind mir sympathisch. Mit Manchen ist es schwierig. Familie kann man sich nicht aussuchen. Wie in einer normalen Familie. Mit Gott in der Mitte. Der trägt und vereint. Der versöhnt und verbindet. Der allein glücklich macht.

Im Nebel

Inspiriert von @schafzwitschern bei Twitter und dem Verhalten von Schafen bei Nebel.

Der Nebel zieht auf. Langsam kriecht er über den Rand des Hügels zu uns herunter. Ich sehe in die Richtung und bekomme eine Gänsehaut. Um mich herum die anderen. Es ist ganz still. Alle sehen den Nebel. Alle können ihn spüren. Und riechen. Die Luft riecht feucht. Und sie wird dunkel.

Der Nebel zieht auf. Und jetzt brauchen wir Orientierung. Immer dichter drängen wir uns zusammen. Wo sind die anderen? Der Nebel ist dicht. So dicht, dass ich die Hand vor Augen kaum sehen kann. Die anderen neben mir kaum erkenne. Die Konturen verschwimmen. Und die Stille hält mich fest. Der Nebel zieht auf und das Einzige, was jetzt zählt, ist: Ich bin nicht allein. Ich bin nicht nur ich hier im Nebel. Sondern ich bin wir. Wir rücken so dicht zusammen, dass wir einander spüren. Der Nebel drängt uns zusammen, denn nur wenn wir uns spüren, im Nebel, können wir einander nicht verlieren. Der Nebel zieht auf und ich frage mich: Wohin? Wenn ich doch nichts sehen kann? Wenn das ich, das wir sind, nichts sehen kann. Wir stehen dicht zusammengedrängt und spüren einander und halten ganz still. Es gibt kein woher und auch kein wohin im Nebel. Im Grau.

Doch dann ein Ruf. Ganz leise erst. Durch den Nebel wie durch Watte. Ganz leise und ganz fern. Und trotzdem ganz nah und in mir drin, ganz tief vertraut. Ein Ruf, der mich meint und mich trifft. Mich und das Ich, das wir sind, alle zusammen. Und ich drehe meinen Kopf in die Richtung, aus der der Ruf kommt. Aus der er zu kommen scheint. Und es ist, als drehe sich mein Kopf, als drehe sich unser Kopf in dieselbe Richtung, alle zusammen. Und dann bewegt sich etwas. Ich gehe, wir gehen, wir bewegen uns langsam dahin. In die Richtung, aus der die Stimme kommt, aus der das Rufen kommt, das nur mich meinen kann, mich ganz allein und uns alle zusammen. Die Stimme, die mich kennt, besser als ich und die ich kenne, immer schon. Die Stimme, die alleine richtig ist, richtig für mich, mich richtig macht und gut und ganz.

Und wir bewegen uns, niemand als Erster, alle zusammen und doch jeder allein für sich. Wir sind ganz still und hören auf die Stimme und wer ganz hinten die Stimme noch nicht hören kann, geht mit, weil er weiß: die anderen hören sie. Auch durch den Nebel, auch ohne Sicht. Und wir bewegen uns, ein einziger großer Körper und niemand weiß wohin, wir wissen nur eins: Der Stimme nach. Durch den Nebel, durch das Grau und durch die Nacht.

Jeder muss gehen, damit wir alle uns bewegen können und so gehe ich voran Schritt für Schritt und höre auf die Stimme in meinem Kopf und in meinem Herzen und in der Luft. Die Stimme, die Vertrauen ist. Vertrauen schafft in mir. Weil sie zu mir gehört und zu dir der du mich kennst, besser noch als ich. Und sie kommt näher durch den Nebel, die Stimme, deine Stimme, bis sie ganz dicht ist, da neben mir. Und auf einmal stehen wir still. Der Nebel ist noch da, doch jetzt ist er egal. Denn du bist da. Im Nebel und mitten unter uns. In unserer Mitte. Ganz in der Mitte. Und wir sind bei dir. Und alle Köpfe drehen sich zu dir und alle drehen wir uns zur Mitte. Denn da bist du. Und du machst uns eins. Mit dir in unserer Mitte können wir uns nicht trennen, denn du bist ja nicht nur die Mitte von uns sondern auch die Mitte von mir. Zu der ich gehöre und ohne die ich nicht bin. Niemand von uns. Bleib bei uns, hier im Nebel und wir bleiben bei dir.

„Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“ (Jesus, Johannesevangelium 10,14)

#teamrettungsgasse

Freitagnachmittag. Heinrich ist auf der A2 unterwegs. Die Dämmerung ist jetzt nicht mehr zu übersehen. Es regnet, die Scheibenwischer stehen kaum still. Vor ihm reiht sich Rücklicht an Rücklicht. Im Rückspiegel unzählige Scheinwerfer. Die Autobahn ist voll. Alle wollen nach Hause. Heinrich auch. Aber es kommt, wie es kommen musste. Nichts geht mehr. Entnervt dreht Heinrich den Zündschlüssel um. Wenn er sowieso im Stau steht, muss der Motor auch nicht laufen. Weder vor- noch hinter ihm bewegt sich etwas. Das Radio lässt er laufen. Wenigstens die Musik gefällt ihm.

Es war im fünfzehnten Regierungsjahr des Kaisers Tiberius. Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Antipas regierte in Galiläa, sein Bruder Philippus in Ituräa und Trachonitis, Lysanias regierte in Abilene. Die obersten Priester waren Hannas und Kajaphas. Johannes, der Sohn von Zacharias, hielt sich noch in der Wüste auf. Dort erging an ihn der Ruf Gottes. Da machte er sich auf, durchzog die ganze Gegend am Jordan und verkündete: »Kehrt um und lasst euch taufen, denn Gott will euch eure Schuld vergeben!« Schon im Buch des Propheten Jesaja steht: »In der Wüste ruft einer: ›Macht den Weg bereit, auf dem der Herr kommt! Ebnet ihm die Straßen! Füllt alle Täler auf, tragt Berge und Hügel ab, beseitigt die Windungen und räumt die Hindernisse aus dem Weg! Dann wird alle Welt sehen, wie Gott die Rettung bringt.‹ (aus Lukas 3)

Heinrichs Gedanken gehen spazieren. In vier Wochen ist Weihnachten. Von Besinnlichkeit und Festtagsstimmung ist bei ihm keine Spur. Wie soll die auch aufkommen, wenn kurz vor Jahresende in der Firma immer am meisten los ist. Vielleicht hätte er doch mit 65 aufhören sollen. Aber sein Chef hat auf ihn eingeredet. „Du bist doch noch gesund. Und wir brauchen dich hier.“ Also macht er weiter. Auch den Stress am Jahresende. Früher hat das mit Weihnachten ihm mal etwas bedeutet. Aber das ist lange her. Viel ist seitdem passiert. Viel, das zwischen ihm und Weihnachten steht.

Plötzlich bemerkt Heinrich im Rückspiegel ein Blaulicht. Weit hinter ihm. Die Polizei wahrscheinlich. Oder ein Rettungswagen? Der hat jedenfalls keine Chance, hier durchzukommen.

In der Wüste ruft einer: ›Macht den Weg bereit, auf dem der Herr kommt! Ebnet ihm die Straßen! Füllt alle Täler auf, tragt Berge und Hügel ab, beseitigt die Windungen und räumt die Hindernisse aus dem Weg! Dann wird alle Welt sehen, wie Gott die Rettung bringt.‹

Wir müssen ihn da rausholen!“ Der Mann muss gegen den Regen und den Lärm der Autos auf der anderen Fahrspur anbrüllen. Der VW vor ihm hat sich einmal überschlagen und ist völlig verbeult. Der Fahrer steckt fest. Er scheint bewusstlos zu sein. „Wie sollen wir das denn schaffen? Die Tür klemmt und verletzt ist er bestimmt auch. Wir machen doch alles nur noch schlimmer!“ antwortet der Fahrer des grünen Fiat, der neben ihm angehalten hat. „Wo bleibt denn nur der Rettungswagen?“ Der erste Mann wirft einen Blick auf die riesige Schlange an Fahrzeugen, die sich hinter der Unfallstelle gebildet hat. „Da kommen die nie durch! Warum bilden die denn keine Rettungsgasse?“ Er läuft zum ersten Wagen in der Reihe, klopft an die Fahrertür. Das Fenster geht auf. „Fahren Sie an die Seite! Wir brauchen eine Rettungsgasse, damit der Krankenwagen durchkommt! Bitte sagen sie es auch den anderen Fahrern weiter!“

In der Wüste ruft einer: ›Macht den Weg bereit, auf dem der Herr kommt! Ebnet ihm die Straßen! Füllt alle Täler auf, tragt Berge und Hügel ab, beseitigt die Windungen und räumt die Hindernisse aus dem Weg! Dann wird alle Welt sehen, wie Gott die Rettung bringt.‹

Der Karton mit der Weihnachtsdekoration ist ganz schön schwer. Sandra schnauft ziemlich, als sie die Kellertreppe geschafft hat. Sie stellt den Karton auf den Wohnzimmertisch und öffnet ihn. Kugeln und Engel, Sterne, Kerzenhalter und Lichterketten kommen zum Vorschein. Da hat sich im laufe der Jahre so einiges angesammelt. Sie legt eine Weihnachts-CD auf und beginnt, die Wohnung zu dekorieren. Nach einer Weile fällt ihr eine kleine Holzfigur in die Hand. Sie gehört zur Krippe. Es ist das Jesuskind. Mit ausgestreckten Armen liegt es da und sieht Sandra an. Jesus. Mit der Figur in der Hand setzt Sandra sich aufs Sofa. Die Krippe hat sie von ihren Eltern bekommen. Damals, als noch alles in Ordnung war. Zu Hause hatte sie immer unter dem Weihnachtsbaum gestanden. Am Heiligen Abend wurde sie aufgebaut. Aber das Jesuskind durfte noch nicht hinein, ehe die Familie zur Christvepser in der Kirche gewesen war. Darauf bestand Sandras Vater. Nach dem Gottesdienst stand die Familie um den erleuchteten Baum. Der Vater las die Weihnachtsgeschichte noch einmal vor. Sie beteten ein Vaterunser. Und mit einer feierlichen Geste legte er das Jesuskind an seinen Platz in der Krippe. „Jetzt ist er da, der Retter.“ sagte er dann immer. Als Sandras Kinder kamen, gaben die Eltern die Krippe an sie weiter. „Wir kommen doch jetzt Weihnachten immer zu euch.“ Hatte der Vater damals gesagt. Sandra seufzt. Das alles ist lange her. Der Kontakt zu ihren Eltern ist seit einigen Jahren abgebrochen. Ein Streit, verletzte Gefühle, zornige Anrufe, ein Wort ergab das andere. Und dann: Funkstille. Seitdem hat Sandra die Krippe nicht mehr aufgebaut. Ärgerlich schüttelte sie die Gedanken ab und legte die Holzfigur auf den Tisch. Die letzten Sterne sind schnell aufgehängt. Dann muss sie sich um das Mittagessen kümmern. Die Kinder würden bald aus der Schule kommen.

In der Wüste ruft einer: ›Macht den Weg bereit, auf dem der Herr kommt! Ebnet ihm die Straßen! Füllt alle Täler auf, tragt Berge und Hügel ab, beseitigt die Windungen und räumt die Hindernisse aus dem Weg! Dann wird alle Welt sehen, wie Gott die Rettung bringt.‹

Heinrich sieht noch immer das Blinken des Blaulichts im Rückspiegel. Plötzlich ertönt im Radio das Geräusch für die Verkehrsmeldungen. „Eine Meldung für alle Fahrer die auf der A2 im Stau stehen. Bitte bilden Sie eine Rettungsgasse, damit die Rettungskräfte zur Unfallstelle vordringen können.“ Rettungsgasse? Wie ging das gleich? Heinrich überlegt. Zwischen der linken und der mittleren Spur soll man die doch machen. Das erklärt auch, warum das Auto vor ihm so dicht an die linke Leitplanke rangefahren ist. Heinrich setzt vorsichtig ein Stück zurück und tut es ihm gleich. Jetzt erkennt er auch den Aufkleber, der auf dem Heck des Wagens klebt: #teamrettungsgasse

 In der Wüste ruft einer: ›Macht den Weg bereit, auf dem der Herr kommt! Ebnet ihm die Straßen! Füllt alle Täler auf, tragt Berge und Hügel ab, beseitigt die Windungen und räumt die Hindernisse aus dem Weg! Dann wird alle Welt sehen, wie Gott die Rettung bringt.‹

Sandras Tochter kommt in die Küche. „Mama, was ist das?“ Sie hat die kleine Jesusfigur in der Hand. „Ach das… nichts. Das haben wir früher immer … egal. Komm gib mal her. Ich räume das weg. Sie steckt die Figur in die Hosentasche. Am nächsten Morgen will Sandra die Waschmaschine anstellen. Als sie in die Taschen der Hose greift, die sie gestern getragen hat, fällt ihr wieder Jesus in die Hand. Nachdenklich sieht sie die Figur noch einmal an. Fast sieht es aus, als ob er sie direkt anschaut. Als ob er etwas von ihr wollte. „Du verfolgst mich wohl.“ denkt sie. „Was willst du eigentlich von mir?“ „Jetzt ist er da, der Retter.“ Hatte ihr Vater immer gesagt. Zu ihr war er seit dem Streit jedenfalls nicht mehr gekommen. Wieder legtsie die Holzfigur in die Hosentasche.

In der Wüste ruft einer: ›Macht den Weg bereit, auf dem der Herr kommt! Ebnet ihm die Straßen! Füllt alle Täler auf, tragt Berge und Hügel ab, beseitigt die Windungen und räumt die Hindernisse aus dem Weg! Dann wird alle Welt sehen, wie Gott die Rettung bringt.‹

Es hat einige Zeit gedauert, aber endlich ist die Rettungsgasse breit genug, damit der Krankenwagen hindurchfahren kann. Heinrich sieht das Blaulicht an sich vorbeifahren, so aus nächster Nähe ist das Martinshorn wirklich laut. Er sieht, wie sich das Licht weiter von ihm entfernt. Einige hundert Meter vorne bleibt es stehen. Die Unfallstelle ist also gar nicht weit entfernt. „Endlich sind sie da, die Retter“ denkt er. Dann muss er stutzen. Dieser Gedanke … Er stößt etwas in ihm an. Da klingt etwas nach. Eine Erinnerung. Ein Schmerz. Eine Verletzung. Bald ist Weihnachten. Der Retter kommt. Aber – kommt er denn auch durch? Käme er denn auch durch zu mir, wenn er mich retten wollte? Oder gäbe es gar keine Rettungsgasse? Was steht ihm denn eigentlich im Weg? Verwirrt schüttelt Heinrich die Gedanken ab. 20 Minuten später geht es endlich weiter und er kann sich auf den Weg nach Hause machen.

Am nächsten Morgen liest er in der Zeitung von dem schweren Unfall auf der A2. Der verunglückte Fahrer konnte gerettet werden. Dank einiger beherzter Menschen, die dafür sorgten, dass eine Rettungsgasse gebildet wurde. Die Autofahrer ansprachen und beim Radio anriefen. Heinrich muss wieder an den Aufkleber auf dem Autoheck denken. #teamrettungsgasse.

In der Wüste ruft einer: ›Macht den Weg bereit, auf dem der Herr kommt! Ebnet ihm die Straßen! Füllt alle Täler auf, tragt Berge und Hügel ab, beseitigt die Windungen und räumt die Hindernisse aus dem Weg! Dann wird alle Welt sehen, wie Gott die Rettung bringt.‹

Vier Wochen später. Sandra sitzt mit ihrer Familie an Heiligabend in der Kirche. Sie sieht auf die Uhr. Der Braten schmort bei niedriger Temperatur im Ofen. Aber wenn hier nicht bald Schluss wäre, müsste sie früher gehen, um die Kartoffeln aufzusetzen. Der Pfarrer scheint heute kein Ende zu finden. Ständig spricht er vom Retter, den Gott schickt. Jesus, als Kind in der Krippe geboren … Sie kann es schon auswendig nachsagen. Plötzlich horcht sie auf. „Was steht eigentlich zwischen ihnen und dem Retter?“ fragt der Pfarrer. Sie muss an die Holzfigur denken, die sie in der Kiste gefunden hat. Und plötzlich geht es ihr auf: Ein Streit steht da. Ärger und Verletzungen. Schuld und Härte. Seit der Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen ist, dringt die Botschaft von Weihnachten nicht mehr zu ihr durch.

Als die Familie später um den Esstisch sitzt, bei Braten und Kartoffeln, hat Sandra die schweren Gedanken beiseite geschoben. Die Kinder sind quirlig und aufgeregt, können gar nicht erwarten, dass sie endlich ihre Geschenke bekommen. Plötzlich klingelt es an der Tür. Alle sehen sich verwundert an. „Das Christkind!“ ruft ihre Jüngste. Sandra schüttelt lächelnd den Kopf und geht zur Tür. Als sie sie öffnet, verschlägt es ihr die Sprache.

 

Eine halbe Stunde später stehen alle vor dem Weihnachtsbaum. Sandra, ihr Mann und die Kinder. Heinrich und seine Frau. „O du Fröhliche“ haben sie gesungen. Heinrich hat die Weihnachtsgeschichte erzählt. Und sie haben gemeinsam ein Vaterunser gebetet. „Wartet kurz“ sagt Sandra und geht aus dem Zimmer. Aus der Schublade der Kommode im Flur nimmt sie die kleine Jesusfigur. Sie hat es nicht übers Herz gebracht, sie wieder in den Keller zu tragen. „Hier, Papa.“ Sie gibt Heinrich die Figur in die Hand. Er legt sie unter den Weihnachtsbaum. „Jetzt ist er da, der Retter.“

St. Martin – oder: Wirklich Halbe-Halbe?

St. Martin, St. Martin, St. Martin ritt durch Schnee und Wind, sein Ross, das trug ihn fort geschwind, St. Martin ritt mit leichtem Mut, sein Mantel deckt ihn warm und gut.

St. Martin, ein Mann, der im 4. Jahrhundert gelebt hat, Soldat der kaiserlichen Garde. Der durch die Straßen von Amiens ritt, an einem Tag, an dem es nass und kalt war. Vielleicht so wie heute.

Im Schnee saß, im Schnee saß im Schnee da saß ein armer Mann, hat Kleider nicht, hat Lumpen an. „O helft mir doch in meiner Not, sonst ist der bittre Frost mein Tod.

Und St. Martin reitet nicht vorbei, an dem Mann, der da im Stadttor sitzt und ihn um Hilfe bittet. Er sieht ihn an. Viel hat Martin wohl selber nicht, vielleicht hätte er ihm auch einfach eine kleine Münze hinwerfen können. Aber was macht er stattdessen? Er steigt vom Pferd. Und dann…

Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin zog die Zügel an, sein Ross stand still beim armen Mann, St. Martin mit dem Schwerte teilt den warmen Mantel unverweilt.

Dann gibt er, was er kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Martin nur einen Mantel hat. Einen wertvollen, warmen Mantel, den man dringend braucht als Soldat im Winter. Und was tut er? Er gibt nicht ein bisschen von dem was er hat. Er teilt was er hat. Und was bringen wir unseren Kindern bei: Teilen bedeutet: Halbe-Halbe.

Und dann sind da zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der eine auf dem Pferd und der andere auf dem Boden. Der eine gut versorgt, der andere elend und schwach. Und doch könnten sie nicht gleicher sein. Martin und der Bettler auf dem Boden umhüllt von zwei Teilen desselben Mantels. Martin teilt mit diesem Mann. Fifty-fifty. Was ist eigentlich Gerechtigkeit?

Was wäre eigentlich, wenn …

… der Heilige Martin, damals, in den Straßen von Amiens nicht angehalten hätte?

St. Martin, St. Martin, St. Martin galoppiert voran den Bettler sieht er gar nicht an. Ne Münze wirft er ihm noch nach, und reitet schnell zum warmen Dach.

Dann wäre der Bettler vielleicht nicht nur traurig und einsam und elend, dann wäre er vielleicht wütend und kriminell geworden. Er hätte sich genommen, was er so dringend braucht, weil niemand es ihm geben will. Weil er dabei ist zu verhungern und zu erfrieren. Weil er keine Arbeit hat und keine Zukunft und keine Hoffnung. Weil er sich von den Menschen und der Gesellschaft vernachlässigt fühlt und missachtet. Weil ihm ständig gezeigt wird: Du bist nichts wert in unseren Augen.

Was wäre eigentlich, wenn …

… der Heilige Martin damals in den Straßen von Amiens nicht angehalten und seinen Mantel geteilt hätte? Dann würden wohl heute keine Kinder mit Laternen im November durch die Dörfer ziehen. Dann wären wir ärmer um einen schönen Brauch und hätten nur noch Kürbisfratzen und „Süßes oder Saures“ im Herbst. Eine Kultur des „Wie du mir so ich dir“ und „Wer nichts verdient soll auch nichts bekommen.“

Das mag und will ich mir nicht vorstellen. Doch die Frage geht noch weiter.

Was wäre eigentlich wenn…

… ich mich nicht nur jedes Jahr im November an die Geschichte vom Heiligen Martin erinnern Lieder singen, Laterne laufen und Würstchen essen würde?

Was wäre eigentlich, wenn …

… der Heilige Martin nicht nur ein Anlass wäre, zusammen zu basteln und zu feiern, sondern wenn er und sein Handeln ein Vorbild wären, das wir nicht nur Kindergartenkindern als beispielhaft lehren. Sondern ein Vorbild für mich.

Der Heilige Martin, der nicht nur ein bisschen abgibt von dem, wovon er sowieso zu viel hat. Sondern der seinen wertvollen Besitz teilt mit dem, der so dringend etwas braucht. Fifty-fifty.

Wäre das wohl ein Vorbild?

Sankt Martin, Sankt Martin,
Sankt Martin legt sich müd‘ zur Ruh
da tritt im Traum der Herr dazu.
Er trägt des Mantels Stück als Kleid
sein Antlitz strahlet Lieblichkeit.

„Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.“ sagt Jesus.

Was wäre eigentlich wenn…

… der Heilige Martin nicht nur ein Anlass für einen schönen Brauch wäre, sondern mir ein echtes Vorbild. Teilen. Nicht nur etwas abgeben. Halbe-Halbe. Und ich überlege, wieviel ich wohl für Weihnachtsgeschenke ausgeben werde in diesem Jahr, um Menschen zu beschenken, die sowieso schon alles haben.

Was wäre eigentlich, wenn …

… diese Geschenke nur die Hälfte kosten würden. Und ich den Rest weitergeben würde. An jemanden, der es wirklich braucht.

Sankt Martin, Sankt Martin
Sankt Martin gab den halben still,
ob ich das auch versuchen will?

Gott, lehre mich weiterzugeben von dem Segen, den du mir anvertraust. Amen.